Der utopische Körper des Textes
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«Auseinandersetzungen über den Realismus sind / obsolet geworden, weil wir alle Wirklichkeiten / gleich behandeln, / gleich schlecht.»
Diese beinahe prophetischen Zeilen finden sich im Gedicht Skizze vom Gras im gleichnamigen Gedichtband von 2014. Von der Auflösung des «Ministeriums für Pflanzen» wird darin berichtet. Die Erde beherbergt nicht mehr genug Arten, für die sich der Aufwand lohnen würde. Übrig bleibt das Gras, das über alles wächst. In stummer, aber nicht wortloser Dankbarkeit schätzt es den Raum, den wir ihm geben. «Wirte dieser Dankbarkeit» sind die Dichter, die wahre Dinge leise und schön aussprechen: «Wie das Gesumme der Bienen / in einem Dickinsongedicht / erfüllt es die Himmel unserer Phantasie».
Zwölf Bücher hat Silke Scheuermann seit 2001 veröffentlicht. Diese Autorin scheint sich nicht nur in den verschiedensten Genres wie selbstverständlich zu bewegen, bemerkenswert ist auch die Kadenz, mit der ihre an Umfang und Gehalt beachtlichen Werke erscheinen. Gedichte, Erzählungen, Romane, Essays und sogar ein Kinderbuch bilden das Korpus ihrer Arbeiten. Mit Wovon wir lebten liegt nun ihr vierter, über 500 Seiten umfassender Roman vor. Er schildert die Lebensgeschichte des jungen Marten aus Offenbach bei Frankfurt und seine fast schon filmreife «Tellerwäscher-Karriere».
Vom Drogenkurier zum Sterne-Koch
Martens Startchancen sind in der Tat alles andere als rosig. Sein Vater ist ein selbstsüchtiger Familientyrann, neben dem es nur Schwächlinge gibt. Seine Mutter schwankt zwischen Alkohol und Resignation. Halt gibt ihm einzig sein Freund Micha und sein Schwarm, die geheimnisumwitterte Stella von Sternberg. Und da gibt es auch noch den zwielichtigen Rainer und seine Jungs vom Boxclub, «die coolsten Typen überhaupt».
Besagter Rainer handelt mit Drogen und setzt den Schüler Marten als Kurier ein. Bei einer Razzia schmuggelt Marten in seinem Rücksack ein Kilo Kokain an der Polizei vorbei und bewahrt die heisse Ware bei sich zu Hause auf. Als er Rainer von seiner Heldentat erzählt und ihm das Kokain zurückgibt, hat er in ihm einen Verbündeten gefunden. Nach einer Lehre und Arbeit als Maschinenführer und dem totalen Drogenabsturz lernt er die «richtigen Leute» kennen. Mit deren Hilfe und Geld eröffnet er, ein Naturtalent im Anrichten exquisiter Gerichte, ein Sterne-Lokal in Frankfurt. Das In-Lokal «Happy Rabbit» ist bald als Gourmet-Tempel in aller Leute und Medien Mund, Martens «american dream» ist Realität geworden.
Dass das alles nicht ohne Friktionen und überraschende Wendungen abläuft, versteht sich von selbst. Silke Scheuermann schildert Martens Coming-of-Age-Geschichte so unterhaltsam wie realistisch und so spannend wie menschennah. Dabei gelingt ihr das keineswegs einfache Kunststück, die männliche Perspektive des heranwachsenden Ich-Erzählers glaubwürdig zu vermitteln.
Offene Hand des Romans, geschlossene Faust des Gedichts
Hier die Romanautorin Scheuermann mit weit ausgreifenden Lebensbeschreibungen, dort die hochkonzentrierte und artistische Poetin – wie geht das zusammen?
Im Buch Und ich fragte den Vogel, einer Kollektion von «lyrischen Momenten» und Selbstauskünften, spürt die Autorin einer Vielzahl von Dichterinnen und Dichtern von Inger Christensen über Charles Simic bis Sylvia Plath und Anne Sexton nach und erweist sich als kenntnisreiche Femme de lettres. Vielleicht lässt sich Scheuermanns «Doppelbegabung» als Verfasserin von Romanen und Gedichten mit der vergleichbaren realistischen Herangehensweise an beide einkreisen.
In Sylvia Plaths Erzählung Ein Vergleich heisst es: «Wenn das Gedicht konzentriert ist, eine geschlossene Faust, dann ist der Roman eine offene Hand, ausgreifend und entspannt: hat Strassen, Umwege, Bestimmungen; eine Herzlinie, eine Kopflinie, Geld und Sitten geraten hinein. Wo die Faust ausschliesst und erschlägt, kann die offene Hand in ihren Reisen vieles berühren und erfassen».
Silke Scheuermann liest am 7. März um 20 Uhr, bei Noisma im Kult-Bau, Konkordiastrasse 27, 9000 St. Gallen, kultbau.org
Tatsächlich besitzt Scheuermann sowohl mit der offenen Hand des Romans als auch mit der geschlossenen Faust des Gedichts ein enormes Sensorium für realistische Darstellungen. Sie sagt dazu in ihrer Rede zur Verleihung des Hölty-Preises 2014: «… für mich darf auch das Gedicht nicht ganz den Rückbezug zur sichtbaren Realität verlieren, reines Sprachspiel und sich selbst genug sein, sondern es muss eine gewisse Objektivität haben. Dazu gehört, den Abstand zwischen der Wirklichkeit und ihren Abbildungen mitzubedenken.» Gedichte, heisst es weiter, seien «betretbare Bilder»: «So lese ich Lyrik, das ist mein Kriterium: Zeigt mir dieses oder jenes Gedicht, wie ich in der Sprache sehen kann?»
Auch in ihren Romanen gibt es diese Augenblicke, in denen der Leser «in der Sprache sehen kann». Die Wirklichkeit und ihre Abbildungen wiederspiegeln in der Prosa wie in den Gedichten eine Utopie des Schreibens, die Scheuermann so formuliert: «Anders in der Welt zu stehen. Einen anderen Körper zu haben, einen weniger beschädigten, weniger angreifbaren – einen Körper aus Text.» Voraussetzung für diesen utopischen Textkörper ist eine Verwandlung. Die heisse Energie dafür liefert das gefährliche Duo von Kreativität und Destruktion. In letzter Konsequenz handelt es sich um den Preis, den eine Autorin, ein Autor für die fatale Sehnsucht nach der Vollkommenheit des Textes bezahlt.