Der Theaterskandal um ein virtuelles Stück
Oh du unglückselige Vorankündigung
„Vor zehn Jahren wurde in der Schweiz ein sehr engagierter Lehrer von einem Kosovoalbaner am helllichten Tage im Besprechungszimmer seines Schulhauses erschossen. Eine Tat, die auf einen Schlag die gesamte Schweizer Ausländerpolitik in Frage stellen sollte. Auch heute noch, viele Jahre später, polarisiert dieser Vorfall die Bevölkerung. Inzwischen hat die Erinnerung an die Ermordung des Lehrers und die daraus folgende Diskussion längst eine gesellschaftspolitische Dimensionen angenommen: Vielfach wird dieser als Wendepunkt in der Integrationspolitik gewertet. Auf der Basis einer dokumentarischen Recherche werden wir der Frage nachgehen, wie dieser Vorfall der Vergangenheit die Gegenwart noch immer beeinflusst: Ist die Schweiz ein Vielvölkerstaat? Oder die Assimilierung bestimmter Minderheiten nur administrativ erzwungen? Müssen wir bestimmte Konflikte als unlösbar akzeptieren? Und wie können wir künftig miteinander leben?“
(Aus dem provisorischen Ankündigungstext zum Stück, von Anfang an einsehbar oder erfragbar bei der künstlerischen Leitung und beim Theater.)
Die empörten Reaktionen der Presse und in Ihrem Schlepptau der Leserbriefschreiber und Schreiberinnen um die für die Lokremise geplante „theatrale Installation“ der beiden St. Galler Künstler Milo Rau und Marcel Bächtiger, haben sich verselbständigt. Das heisst, jegliche Beteuerungen seitens der künstlerischen Leitung oder des Theaters, man habe nicht im Geringsten die Absicht, zu tun, was befürchtet wird, nämlich sich zu profilieren mit einer schrecklichen Geschichte, sondern man sei ausschliesslich an den Folgen der Tat für den Integrations- und Ausländerdiskurs interessiert, verhallen ungehört oder werden als zynische Arroganz ausgelegt. Als Freund von Milo Rau und Marcel Bächtiger und gelegentlicher Mitarbeiter des IIPM, als Theologe und Redaktor, der sich seit langem mit Ausländer- und Integrationspolitik auseinandersetzt und als jemand, der Paul Spirig gekannt hat und der von seinem von grossem Charisma und Respekt getragenen Umgang mit den Schülern bis heute beeindruckt ist, möchte ich einige Bemerkungen zu einigen Seltsamkeiten der laufenden Debatte machen.
Um es vorweg zu nehmen, dass die Ehefrau von Paul Spirig und andere Personen, die in dieser Sache ein Anrecht auf Erstinformation haben, zwar in der Planungsphase kontaktiert und um ein Gespräch gebeten, aber vor der Programmpräsentation des Theaters nicht noch einmal und eindringlich dazu aufgefordert wurden, ist ein Fehler, den wohl weder die künstlerische Leitung noch das Theater bestreiten. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt im engen Zeitplan und in der Verpflichtung der Theaterleitung, für die bevorstehende Eröffnung der Lokremise möglichst bald ein fertiges Programm zu präsentieren und damit ein Projekt, das, bedingt durch die Arbeitsmethode des IIPM, die auf einer eingehenden Recherche vor Ort basiert, gerade erst in den Vorbereitungen und ersten Sondierungen steckt und eigentlich noch nicht in der Form ist, um das vertiefte Gespräch zu suchen. Denn halten wir hier noch einmal fest: Die „theatrale Ausstellung“ des recherchierten Materials zu den gesellschaftspolitischen Folgen des „St. Galler Lehrermords“ ist auf Mai 2011, also in einem Jahr vorgesehen.
Ginge es mit rechten Dingen zu, hätte der Ankündigungstext und die genau gleich lautenden Aussagen der Beteiligten (aus mehr besteht das Projekt momentan ja noch nicht) alle in der letzten Woche in den Medien vorgebrachten Vermutungen von Anfang an entkräften müssen. Aber in der jetzt oft empört vorgebrachten Formel – „Ich musste es aus den Medien erfahren“ – schwingt eben mit, dass die Empörung tatsächlich überhaupt erst in den Medien entstanden ist, wenn auch vorerst wohl bloss unabsichtlich: Tagblatt-Titelseite: „Lehrermord wird Bühnenstück“. Wenn die erste Berichterstatterin sich mit einigem journalistischem Recht auf Verknappung, aber auch mit einer grosen Prise Effekthascherei aus einer geplanten „theatralen Installation“ über offene Fragen der Integration ein fertiges „Bühnenstück über den Lehrermord“ macht, dann weiss sie auch, dass ihr sachlicher Artikel und die kluge Vertiefung im Focusbund unter dem Titel ebenso verschwindet, wie die Versicherungen des Schauspieldirektors und der künstlerischen Leitung, worum es bei dem Projekt eigentlich gehen wird. Und dann kann am dritten Tag der zweite redaktionelle Bericht bereits ganz naiv und ohne jeglichen Bezug auf die bereits mehrmals wiederholte Richtigstellung, es gehe beim Stück mitnichten um Kriminalistik, sondern um die gesellschaftlichen Folgen einer schrecklichen Tat, das gerade erst geschaffene Phantom eines „Skandalstücks“ nun durch Expertenmeinung verifizieren und mit dem seit der Hirschhornaffaire in der Schweiz wieder salonfähigen Stammtischkalauer „Kunst darf nicht alles“ titeln.
Selbst der abwägende Blick von der Metaebene herunter, der zur Halbzeit der Chefredaktor versuchte, hielt, wiewohl vermittelnd im Ton, so bedauerlicherweise nur noch dem nächsten Kopfgeldjäger den Steigbügel hin, indem laut Kommentar diejenigen, die durch das, was sie in der Zeitung gelesen und durch das, was sie sich danach gereimt haben, sich vor den Kopf gestossen fühlen, der Massstab sein müssen, an dem sich der künstlerische Gehalt dieses Stücks messen sollte – obwohl es dieses „Stück“ nicht gibt und gemäss Ankündigung und unterdessen leicht verzeifelter Versicherung von Theater- und künstlerischer Seite auch nicht beabsichtigt ist. Erst nach dem Wochenende darf sich Milo Rau als „Kopf des Tages“ endlich „missverstanden“ fühlen und die Sache richtig stellen, wobei er nur das wiederholt, was bereits bei der Spielplanankündigung verkündet wurde – dass es ausschliesslich um die gesellschaftspolitischen Folgen des Falls gehen wird und man bitte, bitte aufhören solle, die Hinterbliebenen mit aus der Luft gegriffenen Vermutungen zu verängstigen.
Doch dafür ist es nun natürlich zu spät, da es nur wenige Seiten weiter hinten eine halbe Seite Leserbriefe voll mit rechtschaffener Empörung gibt: „Ich bin gegen eine solche Produktion…ich könnte mir aber durchaus ein Stück vorstellen…“ – und dann absurderweise immer nur genau das tatsächlich vom Theater angekündigte Projekt beschreiben. Was willst du, höre ich den gestandenen Journalisten mir über die Schulter flüstern, die Medien sind nun mal gnadenlos, das muss jeder wissen, der sich aufs Feld der Öffentlichkeit begibt, Naivität gibt’s nicht und Fehler werden möglichst ausgenützt. Aber fest steht, dass wenn es immer so wäre, Lehrermorde an der Tagesordnung wären und die Empörung darüber auf dem Müllhaufen der Geschichte. Aber auch so hat sich die Mediengemeinde derart an die unsachlichen Verbreitungsstandards von Neuigkeiten gewöhnt, dass die Schuld immer denjenigen trifft, dem eine Sache angelastet wird, die Vorverurteilung hat bereits das Schuld- oder Unschuldsurteil zur Fussnote gemacht und die Mutmassung triumphiert über den Beweis. Den Urhebern des geplanten Projekts droht, unabhängig vom tatsächlichen Befund, schuldig zu bleiben. Denn die automatisierte Unterstellung verlangt selber nach dem Skandal, den der andere gewollt bzw. verschuldet haben soll.
Während dieser Tage die Jugend in St.Gallen das Lehrstück „Andorra“ von Max Frisch spielt („Andorra, Feigheit, Verrat, Stigmatisierung, geschehen überall“), wiederholt sich der Plot in den Lokalmedien, in den Leserbriefspalten und den privaten E-Mailaccounts der Beteiligten. Aber ich möchte nicht bei der sachlichen Empörung bleiben, ich bin als Essayist, wo die Beweise wie in diesem Fall fehlen, selber an Mutmassungen interessiert und möchte daher vielmehr einen Blick auf die möglichen tieferen Gründe werfen, die die empörten Reaktionen und die Provokateure dieser Reaktionen getrieben haben könnten. Verständlich sind die unmittelbaren Spekulationen, sowohl der Uninformierten, die in einer Art spontanem Unbehagen das eigene Unverständnis dem Theater zur Last legten, wie auch der Informierten, die zunächst den Schluss Kriminalstück (Ceausescu-Prozess – Lehrermord-Prozess) gemacht haben. Der tatsächlich unglücklich gewählte Arbeitstitel – der ja aber sonst auch nichts weiter als die in dieser Sache übliche Bezeichnung aufnimmt und nebenbei bemerkt der Titel eines Dokumentarfilms von vor einem Jahr ist, in dem so einige der jetzt Empörten mit ausgiebiger Detailfreude von dem Fall erzählen – gibt diesem Schluss die Legitimation. Aber da wie gesagt sowohl die beteiligten Personen wie auch die von Anfang an vorliegende Ankündigung sich explizit und völlig glaubwürdig von diesen Vermutungen distanzieren, könnte als Grund für diese hartnäckige Verdrängung der Tatsachen neben dem oben beschriebenen Skandalautomatismus noch weiteres in Aussicht genommen werden.
Dazu abschliessend zwei Spekulationen. Bezieht man mit ein, in welch emphatischer Weise die Leserbriefschreiber sich zum Anwalt der Familie der Hinterbliebenen machen, sie dadurch überhaupt erst verängstigen und die eigene Betroffenheit wieder von dorther legitimieren, kommt man im Vergleich zum sonstigen Empathieniveau in St.Gallen etwa bei abgewiesenen Flüchtlingen, lärmenden Jugendlichen, Alkis oder Langzeitarbeitslosen nicht umhin, hier ein verstärktes psychisches Motiv anzunehmen, nämlich beispielsweise eine besondere Reinheit, die in unserer Gesellschaft für die Parteinahme des Opfers versprochen ist, und wer ein solches ist, bestimmt die Mehrheit. Der Philosoph Robert Pfaller beschreibt diesen Mechanismus als Folge einer narzisstischen Gesellschaft, in der nur demjenigen moralische Autorität bzw. Akzeptanz entgegengebracht wird, der durch eine Position der Machtlosigkeit und Demütigung niemandem etwas wegnehmen kann. Pfaller schreibt: „Das Opfer, dessen Elend nach sofortiger und unbeschränkter Aktion zu rufen scheint, ermöglicht keinerlei Diskussion darüber, was vernünftigerweise in einem öffentlichen Raum ein Existenzrecht haben sollte. Die Figur des verletzten Individuums (…) ermöglicht es, jeden öffentlichen Raum zu zerstören, indem man ihn den sensibelsten Kriterien des privaten Raumes unterwirft.“ (Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft, 155.)
Damit die Opfer-Figur da ist, braucht es aber auch den Aggressor, den Täter. Das Täterbashing in den Leserbriefspalten ist die logische Folge dieser Konzeption, die „Tat“ kontextfrei zu lesen und den Täter in seiner Eigenverantwortung zu ersäufen, die geheime Lust der selbstgerechten Opferanwälte, sowohl im Missbrauchdiskurs wie auch im St.Galler Theaterskandal. Und schliesslich verdeckt die virtuell geleitete Vorverurteilung des Projekts die real leitenden Urteile und Vorurteile im Integrations- und Ausländerdiskurs, die dieses in die Debatte einbringen wollte – ausgehend von jenem schrecklichen Mord vor elf Jahren, der diese Stadt zu recht noch immer bewegt. Dies nicht aus Effekthascherei, sondern aus dem künstlerischen und psychoanalytischen Credo heraus, dass eine der wirksamsten Versicherungen dagegen, dass Geschichte sich nicht von selber wiederholt, das bewusste Durchdenken der Geschichte, das heisst eben: ihrer Gründe und Folgen ist.
Deshalb kann ich nur staunen. Inwiefern sind Fragen wie die folgenden moralisch verwerflich und treten Persönlichkeitsrechte mit Füssen: War es typisch, dass der Mörder ein Albaner war? Inwiefern hat sich die Ausländer- und Integrationspolitik in der Stadt durch den Mord verändert? Wie ist das Verhältnis zu den Kosovaren? Wie steht es mit Rassismus in den Schulen und Lehrerzimmern? Was tun gegen ethnisch motivierte Gewalt in den Schulen? Gibt es das und in welcher Form? Was bedeutet es, dass der Mörder eine vergleichsweise kurze Haftstrafe hatte? Und könnte bei den politischen Mehrheitsverhältnissen in dieser Stadt in der Ausländerpolitik nicht auch aus der Empörung und der wirksamen Verdrängung dieser Absicht des geplanten Recherche-Projekts ein wenig Angst solchen Fragen gegenüber sprechen?
von Rolf Bossart