Der soziologische Blick

Eine Frau im Umsiedlungslager (Bilder: Fondation Pierre Bourdieu) 

Die Algerienfotografien Pierre Bourdieus dokumentieren koloniale Gewalt und fordern eine Neubewertung der Fotografie in den Sozialwissenschaften. Eine Ausstellung im Centre Pompidou, initiiert von einem emeritierten HSG-Professor, stellt das visuelle Werk des Soziologen in einen zeitgenössischen Kontext.

Der fran­zö­si­sche So­zio­lo­ge Pierre Bour­dieu (1930–2002) be­gann 1958 nach En­de sei­nes Ein­sat­zes als ein­fa­cher Sol­dat im kriegs­ge­schüt­tel­ten Al­ge­ri­en mit sei­nen ers­ten so­zio­lo­gi­schen Feld­stu­di­en. In den zwi­schen 1958 und 1961 ent­stan­de­nen über 3000 Fo­to­gra­fien (Images d’Al­gé­rie) hielt er mit der Ka­me­ra die Zer­stö­rung durch die fran­zö­si­sche Ko­lo­ni­al­ar­mee fest. Sie zei­gen die ge­walt­vol­le Um­sied­lung der Land­be­völ­ke­rung in spe­zi­ell ein­ge­rich­te­te La­ger, den ur­ba­nen All­tag in Al­gier und den tief­grei­fen­den Wan­del in der al­ge­ri­schen Ka­by­lei. Und sie hal­ten den er­zwun­ge­nen Rol­len­wech­sel der Frau­en, den da­mit ver­bun­de­nen Sta­tus­ver­lust der Män­ner, die Ent­wur­ze­lung der Kin­der so­wie den Um­bruch der Feld­ar­beit durch die fort­schrei­ten­de In­dus­tria­li­sie­rung fest.

Auf An­re­gung von Franz Schult­heis, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für So­zio­lo­gie an der Uni­ver­si­tät St.Gal­len, Prä­si­dent der 2005 ge­grün­de­ten Stif­tung Pierre Bour­dieu und lang­jäh­ri­ger Be­glei­ter so­wie Her­aus­ge­ber sei­ner Schrif­ten in deut­scher Spra­che, wur­den die Fo­to­gra­fien seit 2003 in mehr als zehn in­ter­na­tio­na­len Aus­stel­lun­gen ge­zeigt, dar­un­ter 2004 in The Pho­to­graph­ers’ Gal­lery in Lon­don, dem Dae­lim Mu­se­um in Seo­ul so­wie 2006 in den Deich­tor­hal­len in Ham­burg. Auch in der Schweiz wa­ren sie be­reits zu se­hen, et­wa 2006 in der Ro­ten Fa­brik in Zü­rich oder 2009 in der Buch­hand­lung Co­me­dia in St.Gal­len im Rah­men ei­nes Pro­jekts des so­zio­lo­gi­schen Se­mi­nars der HSG.

Die Industrialisierung der Landwirtschaft. 

Die Er­öff­nung der ers­ten Schau 2003 im In­sti­tut du Mon­de Ara­be in Pa­ris er­leb­te der 2002 ver­stor­be­ne Bour­dieu nicht mehr. Franz Schult­heis, der die Aus­stel­lung da­mals in­iti­ier­te, er­klärt sie so: «Die Fo­to­gra­fien wur­den zu­rück­ge­bracht, mit ih­rem Ent­ste­hungs­ort ver­bun­den und von ei­nem über­wie­gend ara­bisch­stäm­mi­gen Pu­bli­kum als Teil ih­rer ei­ge­nen kol­lek­ti­ven Ge­schich­te wie­der an­ge­eig­net.»

Be­kann­tes Ter­rain, neue Wei­he

Im ver­gan­ge­nen Jahr er­warb das Cent­re Ge­or­ges Pom­pi­dou in Pa­ris den Haupt­be­stand der Ori­gi­nal­ab­zü­ge und in­te­grier­te ihn in das Fo­to­ar­chiv der re­nom­mier­ten Kan­din­sky-Bi­blio­thek, wo die Bil­der auch für For­schungs­zwe­cke zu­gäng­lich sind. Noch bis 10. März, be­vor das Cent­re Pom­pi­dou für min­des­tens fünf Jah­re re­no­viert wird, ist die Aus­stel­lung «L’Al­gé­rie sous l’œil d’un pho­to­gra­phe nom­mé Pierre Bour­dieu» im Ca­bi­net de la pho­to­gra­phie an der Rue Beau­bourg zu se­hen. Sie rückt Bour­dieus fo­to­gra­fi­sches Werk in das in­tel­lek­tu­el­le Um­feld, in dem er als Pro­fes­sor am Col­lè­ge de France wirk­te.

Die rund 100 Ori­gi­nal­ab­zü­ge, die für das Cent­re Pom­pi­dou in Zu­sam­men­ar­beit mit Franz Schult­heis und der Re­vue Ca­me­ra Aus­tria zu­sam­men­ge­stellt und nun aus­ge­stellt wur­den, sind durch hand­ge­schrie­be­ne Tex­te Bour­dieus und den spe­zi­ell für die Aus­stel­lung pro­du­zier­ten Film L’en­quête Bour­dieu ou le ri­co­chet des images der al­ge­risch-stäm­mi­gen Künst­le­rin Ka­tia Ka­me­li er­gänzt. Zu­sätz­lich zur Aus­stel­lung im Cent­re Pom­pi­dou ist die Pu­bli­ka­ti­on Images d’Al­gé­rie. Une af­fi­ni­té élec­ti­ve in ei­ner Neu­auf­la­ge im Ver­lag Ac­tes Sud er­schie­nen.

Ein Bub auf einem Esel im Umsiedlungslager. 

Die Aus­stel­lung trägt nicht nur zur Re­le­vanz der Fo­to­gra­fien für die Pierre-Bour­dieu-For­schung bei, ins­be­son­de­re im Zu­sam­men­hang mit dem erst kürz­lich er­öff­ne­ten Bour­dieu-Ar­chiv an der Uni­ver­si­té Cond­or­cet, son­dern er­öff­net auch Raum für his­to­ri­sche und kunst­wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen. Die­se neue künst­le­ri­sche Wei­he sei­ner Fo­to­gra­fien könn­te zu­gleich ei­ne De­bat­te über die Le­gi­ti­mi­tät von Fo­to­gra­fie in der so­zio­lo­gi­schen Pra­xis neu ent­fa­chen.

Die Rück­erobe­rung ei­ner il­le­gi­ti­men Pra­xis

Be­reits die Chi­ca­go­er Schu­le für So­zio­lo­gie setz­te in der Zwi­schen­kriegs­zeit ab 1930 ge­zielt Fo­to­gra­fie als Mit­tel zur so­zio­lo­gi­schen Er­kennt­nis in­ner­halb der em­pi­ri­schen So­zi­al­for­schung ein. Die zu­neh­men­de Ver­städ­te­rung im Zu­ge der in­dus­tri­el­len Re­vo­lu­ti­on so­wie die trau­ma­ti­sche Er­fah­rung des Ers­ten Welt­kriegs er­for­der­ten ei­nen me­tho­di­schen Wan­del, der von vor­herr­schen­den sta­tis­ti­schen Er­he­bun­gen ab­sah und statt­des­sen ver­stärkt den Blick auf das rea­le Ge­sche­hen auf den Stras­sen rich­te­te – da­bei galt ins­be­son­de­re auch die Fo­to­gra­fie als le­gi­ti­mes Mit­tel zur Do­ku­men­ta­ti­on und Dar­stel­lung wis­sen­schaft­li­cher Er­kennt­nis­se.

Mit dem Wirt­schafts­wun­der der 1950er-Jah­re ge­riet die vi­su­el­le So­zio­lo­gie zu­neh­mend in den Hin­ter­grund. Die So­zi­al­wis­sen­schaf­ten wand­ten sich wie­der ver­stärkt quan­ti­ta­ti­ven Me­tho­den un­ter der Do­mi­nanz gros­ser US-ame­ri­ka­ni­scher Er­he­bungs­in­sti­tu­te zu, wäh­rend die Fo­to­gra­fie als wis­sen­schaft­li­ches In­stru­ment an Be­deu­tung ver­lor und ge­wis­ser­mas­sen zum il­le­gi­ti­men In­stru­ment er­klärt wur­de.

Der Alltag in einem Umgruppierungslager. 

Auch Bour­dieu ori­en­tier­te sich zeit­wei­se an quan­ti­ta­ti­ven Er­he­bun­gen, kehr­te je­doch ge­gen En­de sei­nes Le­bens zu­neh­mend zur qua­li­ta­ti­ven For­schung zu­rück. In sei­nem post­hum er­schie­ne­nen So­zio­lo­gi­schen Selbst­ver­such (2004) re­flek­tiert er, wie ihn sei­ne ers­ten so­zio­lo­gi­schen Geh­ver­su­che mit der Fo­to­gra­fie in Al­ge­ri­en zu Er­kennt­nis­sen führ­ten, die er in spä­te­ren Stu­di­en wei­ter­ent­wi­ckel­te. Schult­heis er­klärt: «Durch den Fo­kus der Ka­me­ra konn­te Bour­dieu die Wirk­lich­keit, die ihn in­ter­es­sier­te, schär­fer er­fas­sen. Die­se reiz­über­flu­ten­de Er­fah­rung aus Al­ge­ri­en nahm er mit nach Hau­se und konn­te sie spä­ter, mit Ab­stand, über 40 Jah­re hin­weg eth­no­gra­phisch re­flek­tie­ren.»

Zwi­schen For­schung und Kunst

Die so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit Fo­to­gra­fie er­lebt der­zeit ei­ne neue Kon­junk­tur – zu­neh­mend mit Blick auf ih­ren künst­le­ri­schen Cha­rak­ter. In ei­ner Zeit, in der Kunst ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung über­nimmt, er­weist sich die so­zi­al­do­ku­men­ta­ri­sche Fo­to­gra­fie als zen­tra­les Me­di­um, so et­wa in Mar­tha Ros­lers Street-Pho­to­gra­phy, die zu­letzt 2023 in der Frank­fur­ter Schirn ge­zeigt wur­de. 

Von der zu­neh­men­den Ver­wen­dung eth­no­gra­phi­scher Do­ku­men­ta­ti­on in künst­le­ri­scher Pro­duk­ti­on pro­fi­tiert nicht zu­letzt auch die so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit vi­su­el­len Aus­drucks­for­men, die wie­der als le­gi­ti­me Quel­le ge­sell­schaft­li­cher Ana­ly­sen an­er­kannt wer­den. Die Fo­to­gra­fien die­nen da­bei nicht nur als Do­ku­men­te his­to­ri­scher Ge­ge­ben­hei­ten, son­dern ge­ben auch Im­pul­se für ak­tu­el­le De­bat­ten über so­zia­le Un­gleich­heit, neo­ko­lo­nia­le Struk­tu­ren und hu­ma­ni­tä­re Ka­ta­stro­phen.

Die Strassen von Algier. 

Da­her sei es be­son­ders wich­tig die Fo­tos nicht zu weit von ih­rem Ent­ste­hungs­kon­text zu ent­rü­cken, so Schult­heis. «Als Prä­si­dent der Stif­tung wür­de ich dar­auf ach­ten, dass Bour­dieus fo­to­gra­fi­sche Pra­xis als vi­su­el­le So­zio­lo­gie nicht in ei­ne rein äs­the­ti­sie­ren­de Be­trach­tung von Por­träts ver­fällt. Es geht dar­um, die ge­walt­sa­men, ko­lo­nia­len Kon­tex­te nicht aus­zu­blen­den, son­dern sie in den Fo­kus zu rü­cken – an­dern­falls wür­de ich ein­grei­fen, denn das wä­re nicht im Sin­ne des Er­fin­ders.»

Sich dem Blick nicht ent­zie­hen

Bour­dieus Fo­to­samm­lung for­dert da­zu auf, ko­lo­nia­le Denk­mus­ter der Ge­gen­wart zu hin­ter­fra­gen und zu­gleich das ei­ge­ne so­zio­lo­gi­sche Au­ge zu schu­len. Die­se Schu­lung des Blicks, die weit­ge­hend auf den in Al­ge­ri­en ge­sam­mel­ten Zeug­nis­sen ba­siert, wur­de durch Schrif­ten wie Ent­wurf ei­ner Theo­rie der Pra­xis (1972), So­zia­ler Sinn (1980) und Die männ­li­che Herr­schaft (1998) ei­nem brei­te­ren Pu­bli­kum zu­gäng­lich ge­macht.

Die­se von Bour­dieu mass­geb­lich vor­an­ge­trie­be­ne De­mo­kra­ti­sie­rung der So­zio­lo­gie zeigt sich dar­in, dass sei­ne Wer­ke bis heu­te weit über den wis­sen­schaft­li­chen Be­trieb hin­aus Be­ach­tung fin­den. Ge­ra­de we­gen – oder trotz – ih­rer ko­lo­nia­len Ver­wur­ze­lung sind die Al­ge­ri­en­fo­to­gra­fien so re­le­vant: Sie müs­sen ge­zeigt und ge­se­hen wer­den, um den Blick für ge­gen­wär­ti­ges Un­recht und Ver­trei­bung in heu­ti­gen Kriegs- und Kri­sen­ge­bie­ten nicht ab­zu­stump­fen, son­dern zu schär­fen.

 

«L’Al­gé­rie sous l’œil d’un pho­to­gra­phe nom­mé Pierre Bour­dieu»: bis 10. März, Ca­bi­net de la pho­to­gra­phie, Cent­re Po­mi­dou Pa­ris 

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