Der Record Store Day hat seinen Zauber verloren

Mit Ventilator Records in Winterthur hat sich der grösste Plattenladen im Saiten-Land vom Record Store Day zurückgezogen – und diesen Rückzug auch grafisch zum Ausdruck gebracht. (Bilder: Ventilator Records) 

Der Record Store Day, der diesen Samstag wieder stattfindet, wurde einst ins Leben gerufen, um unabhängige Plattenläden zu unterstützen und die Schallplatte als Kulturgut zu bewahren. Doch viele Musikgeschäfte nehmen inzwischen nicht mehr am RSD teil. 

Stran­ge Days von The Doors im Rough-Mix; die De La­ne Lea De­mos von Queen, Ro­ger Wa­ters’ Live-Neu­in­ter­pre­ta­ti­on von The Dark Si­de Of The Moon; die Keep Me In Mind Swee­the­art-EP von Is­o­bel Camp­bell und Mark La­ne­gan oder der Re­a­dy, Set, Go! be­ti­tel­te Mit­schnitt von Da­vid Bo­wies «Sa­tel­li­ten­kon­zert» von 2003, das aus den Ri­ver­si­de Stu­di­os in Lon­don in 86 Ki­nos welt­weit über­tra­gen wur­de: Die­se Plat­ten ge­hö­ren zu den rund 400 Ver­öf­fent­li­chun­gen, die die­sen Sams­tag an­läss­lich des Re­cord Store Day er­schei­nen. 

Das Ziel des Ak­ti­ons­tags, der 2008 in den USA erst­mals durch­ge­führt wur­de und seit­her im­mer im April statt­fin­det: die Mu­sik­lieb­ha­ber:in­nen in die un­ab­hän­gi­gen Plat­ten­lä­den lo­cken und die­se so un­ter­stüt­zen. Ge­lin­gen soll das dank spe­zi­el­ler und li­mi­tier­ter Vi­nyl-Re­leases, die es nur an die­sem Tag zu kau­fen gibt – Neu­pres­sun­gen ver­grif­fe­ner LPs, un­ver­öf­fent­lich­tes Ma­te­ri­al, Ra­ri­tä­ten wie B-Sei­ten, De­mos oder Live­auf­nah­men, Sin­gles, Pic­tu­re Discs oder Al­ben, die erst­mals über­haupt auf Vi­nyl er­hält­lich sind. 

Für vie­le Plat­ten­lä­den ist der Re­cord Store Day des­halb ein Se­gen. Ei­ni­ge ma­chen an die­sem ei­nen Tag so viel Um­satz wie in ei­nem gan­zen Mo­nat. Doch der Wind hat in­zwi­schen ge­dreht. Vie­le Plat­ten­lä­den ma­chen nicht mehr mit. Weil der RSD für sie mehr Fluch als Se­gen ge­wor­den ist. 

Die Mu­sik­in­dus­trie macht den RSD zu­nich­te 

Die Grün­de für die Ab­kehr sind viel­schich­tig. So ha­ben LPs als Ton­trä­ger heu­te ei­nen hö­he­ren Stel­len­wert als vor bald 20 Jah­ren, als der Re­cord Store Day erst­mals durch­ge­führt wur­de. Die Ver­kaufs­zah­len sind in die­ser Zeit deut­lich ge­stie­gen . Was an sich ei­gent­lich gut wä­re für die Plat­ten­lä­den, wird durch die Mu­sik­in­dus­trie zu­nich­te ge­macht, zu­min­dest in Be­zug auf den RSD. Sie nutzt das ge­stie­ge­ne In­ter­es­se an Vi­nyl, um Wo­che für Wo­che Re-Re­leases auf den Markt zu wer­fen. Und reizt es aus, in­dem sie durch künst­li­che Ver­knap­pung – bei­spiels­wei­se li­mi­tier­te Aus­ga­ben auf far­bi­gem Vi­nyl – Fans und Samm­ler:in­nen zum Kauf ani­miert. Mit an­de­ren Wor­ten: Wenn das gan­ze Jahr über Neu­pres­sun­gen er­schei­nen, hält sich das In­ter­es­se am RSD für ei­ne wie­der­ver­öf­fent­lich­te LP in Gren­zen, nur weil sie nun in der x-ten Vi­nyl­far­be oder als Pic­tu­re Disc er­scheint. 

Ein wei­te­rer Grund da­für ist, dass seit ein paar Jah­ren auch die Ma­jor-La­bels Uni­ver­sal, So­ny und War­ner Teil des RSD sind – und die­sen teils scham­los zur Ge­winn­ma­xi­mie­rung nut­zen. Sie ha­ben rie­si­ge Back-Ka­ta­lo­ge (Ge­samt­wer­ke der je­wei­li­gen Künst­ler:in­nen und Bands), auf die sie kos­ten­güns­tig zu­rück­grei­fen kön­nen, und ge­ben die Re-Re­leases mit teils ab­sur­den Mar­gen an die Lä­den wei­ter. Denn für die­se sind die Prei­se der RSD-Ver­öf­fent­li­chun­gen im Ein­kauf seit je­her hoch, im Ver­kauf müs­sen sie folg­lich noch hö­her sein. Und Vi­nyl ist in den ver­gan­ge­nen drei Jah­ren oh­ne­hin teils deut­lich teu­rer ge­wor­den. 

All das hat letzt­lich zur Fol­ge, dass vie­le Plat­ten­lä­den auf den RSD-Re­leases sit­zen blei­ben. Oben­drein gibt es seit ein paar Jah­ren je­weils im No­vem­ber am Black Fri­day ei­nen zwei­ten, et­was ab­ge­speck­ten Re­cord Store Day.

Ven­ti­la­tor Re­cords spart nicht mit Kri­tik 

Im Fe­bru­ar gab der Win­ter­thu­rer Plat­ten­la­den Ven­ti­la­tor Re­cords be­kannt, nicht mehr am Re­cords Store Day teil­zu­neh­men – erst­mals in sei­ner 15-jäh­ri­gen Ge­schich­te. Die Kri­tik fiel da­bei deut­lich aus: Der RSD ha­be sich im­mer mehr von der ur­sprüng­li­chen Idee, Vi­nyl-Lieb­ha­ber:in­nen zu­rück in die Plat­ten­lä­den zu brin­gen, ent­fernt, heisst es in ei­ner In­fo auf der Web­site. «Letz­tes Jahr wur­de der grös­se­re Teil un­se­res RSD-Be­stan­des in den Wo­chen da­nach on­line ab­ver­kauft. Der An­teil an nicht oder sehr schwer ver­käuf­li­chen Ti­teln wächst von Jahr zu Jahr. Im glei­chen Mas­se sinkt aber lei­der die Qua­li­tät der an­ge­bo­te­nen Re­leases für die­sen Tag.» Wirk­lich re­le­van­te Re­leases sei­en in der ste­tig grös­ser wer­den­den Flut an ver­öf­fent­lich­ten Ton­trä­gern im­mer sel­te­ner zu fin­den. «Hier nut­zen vie­le La­bels und die Ma­jors die Ge­le­gen­heit für schnell ver­kauf­te Auf­la­gen von Sa­chen, die sie sonst wohl gar nie her­aus­brin­gen wür­den.» 

Der Record Store Day 2017 im Ventilator Records in Winterthur. 

Zu Be­ginn ha­be der RSD si­cher ge­hol­fen, Ven­ti­la­tor Re­cords et­was be­kann­ter zu ma­chen und so­gar Stamm­kun­den zu ge­win­nen, sagt In­ha­ber Vas­co Sa­xer auf Nach­fra­ge. «Die Zahl der Ver­öf­fent­li­chun­gen war über­schau­bar, der Hype noch nicht so gross. Über die Jah­re ist sie mas­siv ge­stie­gen. Dar­aus kann man schon schlies­sen, dass die Re­le­vanz ge­ne­rell ab­ge­nom­men hat.» Trotz gros­ser Viel­falt bei Stil­rich­tun­gen und der Art der Ton­trä­ger sei der An­teil der RSD-Re­leases, die ei­ne Be­rei­che­rung für das Sor­ti­ment sei­en, stets klei­ner ge­wor­den. «Ein Gross­teil be­steht mitt­ler­wei­le aus güns­ti­gem Ar­chiv­ma­te­ri­al wie Live-Auf­nah­men und Al­ter­na­te Ta­kes.» Vor ei­ni­gen Jah­ren sei­en die Ka­ta­lo­ge der La­bels auf Vi­nyl noch nicht in dem Mas­se wie­der­ver­wer­tet ge­we­sen, wie das in­zwi­schen der Fall sei. «Dar­um fällt es ih­nen wohl zu­neh­mend schwe­rer, noch re­le­van­te Sa­chen für den RSD zu fin­den.» 

Die Mu­sik­in­dus­trie ha­be mitt­ler­wei­le das Markt­po­ten­ti­al er­kannt und ei­ne Ver­öf­fent­li­chungs­flut los­ge­tre­ten, die schon oh­ne den RSD schwer zu be­wäl­ti­gen sei, sagt Sa­xer. «Li­mi­tier­te far­bi­ge Plat­ten wer­den dau­ernd im Über­mass auf den Han­del los­ge­las­sen, gleich­zei­tig ha­ben die Prei­se mas­siv an­ge­zo­gen, die schma­le Mar­ge bleibt aber gleich.» Für ei­nen mit­tel­gros­sen, un­ab­hän­gi­gen La­den wie Ven­ti­la­tor Re­cords wer­de der Re­cord Store Day da­durch im­mer mehr zu ei­nem Ri­si­ko­ge­schäft, sagt Sa­xer. Das, was am RSD üb­rig blei­be, lie­ge zum Teil Jah­re lang rum, bis es dann mal je­mand über die On­line­platt­form Dis­co­gs be­stel­le. «Vie­les muss man dann aber re­du­ziert – al­so mit Ver­lust – an­bie­ten, da­mit es über­haupt ver­kauft wer­den kann. Wir wer­den un­se­re fi­nan­zi­el­len Res­sour­cen des­halb lie­ber in un­ser Sor­ti­ment in­ves­tie­ren, mit aus­ge­wähl­ten Neu­hei­ten und in­ter­es­san­tem Back-Ka­ta­log.» 

«Ei­ne of­fen­sicht­li­che Geld­ma­che­rei» 

Auch der im Som­mer 2022 er­öff­ne­te St.Gal­ler Plat­ten­la­den Ana­log macht beim Re­cord Store Day nicht mit. «Wir ha­ben wö­chent­lich Neu­hei­ten mit tol­ler Mu­sik und neh­men auch in­ter­es­san­te Wie­der­ver­öf­fent­li­chun­gen ins Sor­ti­ment», sagt Mit­in­ha­ber Phil­ipp Bu­ob, der schon von 2006 bis 2011 in der St.Gal­ler Alt­stadt den Plat­ten­la­den Fresh­cuts führ­te. Letz­te­re ge­be es am RSD aber kaum. «Wenn ich die ak­tu­el­le Lis­te der RSD-Re­leases an­schaue, ist das er­nüch­ternd.» An­fangs ha­be er das Ge­fühl ge­habt, es sei ein coo­ler An­lass für die Vi­nyl­lä­den. Wenn es je­doch bloss dar­um ge­he, «ver­schie­de­ne El­vis-Plat­ten in ver­schie­de­nen Far­ben» über­teu­ert zu ver­kau­fen, sei das ei­ne «of­fen­sicht­li­che Geld­ma­che­rei», sagt Bu­ob. «Ich fin­de das dreist und will das nicht un­ter­stüt­zen.» 

Ver­mut­lich der Ein­zi­ge der üb­rig­ge­blie­be­nen Plat­ten­lä­den im Sai­ten-Land, der die­ses Jahr am RSD teil­nimmt, ist Mel­ting­point in Schaff­hau­sen, den Ralf Harms und Chris­ta Bau­mann 2022 er­öff­net ha­ben. Da sie erst zum zwei­ten Mal mit­ma­chen, könn­ten sie kei­ne kon­kre­te Äus­se­rung da­zu ab­ge­ben, wie sich der An­lass ent­wi­ckelt ha­be, schreibt Bau­mann. Sie hät­ten aber den Ein­druck, dass die Aus­wahl die­ses Jahr viel­sei­ti­ger sei. «Na­tür­lich sind die im Ein­kauf schon ho­hen Prei­se nicht ge­ra­de ein Lock­mit­tel für Kun­den, bei uns rein­zu­schau­en, aber viel­leicht wer­den wir am Sams­tag ei­nes Bes­se­ren be­lehrt.» 

NDT-De­büt wie­der­ver­öf­fent­licht 

Lur­ker Grand, der sich seit Jahr­zehn­ten in der Schwei­zer Mu­sik­sze­ne her­um­treibt, hält eben­falls nicht be­son­ders viel vom Re­cord Store Day – zu­min­dest nicht vom Ma­te­ri­al, dass un­ter dem of­fi­zi­el­len RSD-Lo­go er­scheint. Der 63-jäh­ri­ge St.Gal­ler nimmt den Ak­ti­ons­tag aber re­gel­mäs­sig zum An­lass, «in­of­fi­zi­el­le» RSD-Re­leases von Schwei­zer Bands zu er­mög­li­chen, zu­letzt et­wa von Kro­ko­dil, Der bö­se Bub Eu­gen, Grau­zo­ne, Hertz/Ta­xi oder Six Pack. Die­ses Jahr hat er ge­mein­sam dem US-Un­der­ground-La­bel PNV Re­cords das selbst­be­ti­tel­te De­büt (und die ein­zi­ge Stu­dio­plat­te) der Lu­zer­ner Punk­band NDT wie­der­ver­öf­fent­licht, in fünf ver­schie­de­nen Edi­tio­nen. Sie ist – wie vie­le an­de­re der von Grand ku­ra­tier­ten Re­leases zum RSD bzw. auf dem La­bel Swiss­punk – un­ter an­de­rem bei Klang und Kleid in St.Gal­len er­hält­lich. 

Ein ge­plan­tes Kon­zert von NDT am Sams­tag im Lu­zer­ner Club Se­del fiel je­doch ins Was­ser, was ge­ra­de für den Ver­kauf der LP sehr schlecht sei, sagt Grand. «Ein Rah­men­pro­gramm ist es­sen­zi­ell, um sol­che Plat­ten zu pro­mo­ten.» Im­mer­hin: Nächs­ten Don­ners­tag von 20 bis 22 Uhr sind Lur­ker Grand und NDT-Bas­sist Mar­kus Tremp bei Ra­dio Lo­Ra zu Gast. 

Ven­ti­la­tor Re­cords plant der­weil als Al­ter­na­ti­ve zum Re­cord Store Day im Som­mer ei­nen «Vi­nyl­tag». Der Fo­kus lie­ge auf Se­cond­hand-LPs, sagt Vas­co Sa­xer, es wer­de aber auch Over­stocks und Schnäpp­chen ge­ben, da­zu DJs, Grill, Ge­trän­ke und Raum für Vi­nyl­freaks zum Aus­tausch. Wann der «Vi­nyl­tag» statt­fin­det, steht noch nicht fest. 

 

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