, 9. Mai 2023
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Der Namengeber

H.R. Fricker, Künstler, Mailartist, Networker, Museumserfinder und Wortvirtuose, ist 75-jährig in Trogen gestorben. Ein paar erste Erinnerungen.

Briefe, die man nicht wegwirft: Post von H.R. Fricker. (Bild: Su.)

«Nur Sender kann man orten» war einer der Slogans, mit denen H.R. Fricker schon früh seine künstlerische Position deklarierte. Nun ist der Sender verstummt. «LAST DAY OF ISSUE» steht auf einem seiner letzten postalischen Werke, gesendet aus «Stoneland», jenem Universum der Steine, das Fricker die letzten paar Jahre intensiv erkundet und künstlerisch dokumentiert hat.

Unsere frühesten Begegnungen fanden beim «Tagblatt» statt. Hans Ruedi Fricker arbeitete in der Mettage, schnitt die Zeitungstexte zu, die anschliessend auf die Druckvorlagen geklebt wurden, von Digitalisierung war noch keine Rede. In Arbeitspausen sah man ihn ab und zu eigene Werke zuschneiden, die er an seine Mail-Art-Kollegen in der halben Welt verschickte.

Die Begegnungen hielten über die Jahre an. In der Hüttschwendi ausserhalb Trogen wohnte H.R. Fricker seit 1976 mit seiner Familie, hier richtete er sein «Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Lande» ein, entwickelte seine Mail-Art und Land-Art. Das einstige Aussenschulhaus, obwohl von den Frickers privat bewohnt, blieb bis vor einigen Jahren noch als Stimmbüro der Gemeinde in Betrieb; vom Lindenbüel, wohin wir gezogen waren, nur einige Gehminuten entfernt. An Abstimmungssonntagen konnten wir so mit einem kurzen Gang über die Wiesen unsere Bürger:innen-Pflicht erfüllen, bekamen von Stimmenzähler Fricker einen Kaffee angeboten und erfuhren das Neuste über seine «künstlerischen Umtriebe».

«I AM A NETWORKER (SOMETIMES)» ist ein anderer der Fricker’schen Merksätze, verewigt auf unzähligen seiner postalischen Arbeiten sowie als Titel der 1989 im St.Galler Vexer Verlag erschienenen Monografie. Hier in der Hüttschwendi konnte man ihn als mit dem Dorf ebenso wie mit der Welt verbundenden Netzwerker erleben. Immer freundlich, immer voll Elan für das Projekt, das ihn gerade beschäftigte, immer bereit, Besucher:innen Einblick in seine Denkart und Arbeitsweisen zu bieten.

«Dichter, Missionar, Verkäufer, Künstler»

Vierfach waren die kindlichen Berufswünsche des 1947 in Zürich geborenen und in Gossau aufgewachsenen Hans Ruedi Fricker. Die Erinnerung daran findet sich in einer Broschüre über ihn, publiziert 2014 aus Anlass einer Ausstellung im Museum für Lebensgeschichten in Speicher, Appenzell Ausserrhoden, dem Museum, das Fricker selber konzipiert hatte. Verkäufer lernte er dann zuerst – die Erfüllung fand er in seinem vierten Beruf.

Dichter: Das war er allerdings auch. Und vielleicht auch ein bisschen Missionar. Bilder waren für ihn stets auch Schrift-Bilder und Sprach-Bilder. Und sein höchst individueller Schöpfungsakt bestand darin, Orte zu benennen, zu beschriften, zu behaupten, sie überhaupt erst als «Ort» kenntlich zu machen.

Schon in den Siebzigerjahren hat Fricker auf den Appenzeller Hügeln Wörter in den Schnee gestapft,  später hat er Ortsbeschriftungen in allen möglichen Variationen entwickelt. Die quadratischen Schilder mit Begriffen wie ORT DER WUT oder ORT DER LIST hängen heute in zahllosen öffentlichen wie privaten Gebäuden.

In der Stadt St.Gallen hat er Orts-Begriffe an ausgewählten Stellen ins Trottoir eingefügt und so einen eigenwilligen Stadtkataster geschaffen, ähnlich in Lenzburg oder Zürich. In Vnà im Engadin prangen Frickers Schrifttafeln mit rätoromanischen Verben an zahlreichen Häusern, in Truttmann tönen sie walliserisch, und an dieser oder jener Kühlschrank- oder Haustür stösst man unversehens auf eines seiner magnetischen Täfelchen mit «Charaktersätzen» wie: «sich selbst misstrauend» oder «mehr tun als nötig», aber auch solitären Wörtern, zum Beispiel: «Quelle».

Die wohl radikalste Wort-Tafel aus H.R. Frickers scheinbar unerschöpflichem Fundus von Benennungen heisst: «da». Wo «da» steht, ist man selber da, angekommen, zumindest an einem wie auch immer richtigen Ort, existent, als «da»-seiende Person für voll genommen.

Friedlicher Imperialist

«Namengeber»: Das war Fricker also auch. Er besetzte Plätze, benannte Unerwartetes, steckte Territorien ab. Und da fiel einmal im Gespräch mit ihm auch gleich die nächste Berufsbezeichnung: Er sei ein «Imperialist». Er sagte es lachend, sein Imperialismus hatte nichts In-Besitz-Nehmendes an sich, sondern vielmehr etwas Befreiendes. Frickers Kunst wollte seit jeher hinaus aus den Museen und Kunsträumen beziehungsweise gar nie hinein.

Kurzerhand erklärte er dafür die Berge seiner Appenzeller Wahlheimat zum «Alpstein Museum». In Speicher initiierte er das Museum für Lebensgeschichten in einer Altersresidenz. Das Murgtal oder das Safiental wurden zu Steinmuseen. Eines seiner Langzeitprojekte rief dazu auf: «Erobert die Wohnzimmer dieser Welt!». Frickers Arbeit erweiterte unablässig die Vorstellung dessen, was «Natur» und was «Kunst» sei oder wo Alltag und schöpferisches Tun ineinander übergehen.

IM TRUEBEN FISCHEN / SCHEINT MEIN BERUF – das ist eines der Anagramme, die H.R. Fricker der Sprache abgerungen hat. Dabei war nichts trüb, alles hoch präzis und zugleich vieldeutig, was er schuf. Wie MENU BANAL, das Anagramm von ANNA BLUME, jener Kunstfigur des Dadaisten Kurt Schwitters, die Fricker mit seiner Buchstabenjonglage neu zum Leben erweckt. Oder, die wohl schönste und politischste aller Trouvaillen: aus GLASNOST wird ANGSTLOS.

Am 6. Mai ist H.R. Fricker in Trogen gestorben, 75jährig und – so ist zu hoffen – angstlos. Ein Nachruf folgt im Juniheft von Saiten.

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