Der Körper denkt mit
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Auf dem Tisch in der vom Kachelofen aufgeheizten Stube steht ein reichhaltiger Zmorge. Franca, zu Gast aus Deutschland, füttert ihren einjährigen Sohn Arien, daneben begrüssen mich Zoe, Mara und Angela, drei der gegenwärtig 18 Mitglieder der Lebensgemeinschaft, und ein weiterer Gast, Darius. Seit gut zwei Jahren bewohnt die Gemeinschaft das Sechs-Zimmer-Bauernhaus in der Blatten, etwas erhöht über dem Bach im Goldachtobel gelegen. Eine weitere Wohnung im Haus unten im «Bädli» haben sie zugemietet, weil der Platz zu eng geworden war.
Und jetzt steht ein weiterer Umbruch an – «wir sind zu viele geworden, und es kommen laufend weitere Anfragen», sagt Angela, die ihrerseits im Bauwagen neben dem Haus lebt. Die Gemeinschaft wird sich deshalb aufteilen, «als Zwischenschritt», bis ein Ort gefunden ist, wo sie ihre «grosse Vision» leben können, wie Angela es nennt. Aber das ist vorgegriffen, zurück an den Zmorgetisch.
An der Wand über dem Tisch hängen gerahmte Bildchen mit kurzen Sätzen. «Ich bin hier, um ein leeres Blatt zu kreieren, wo Unbekanntes entstehen kann», hat Nina geschrieben. Mara hakt ein – die Motivation, sich in dem Projekt zu engagieren und diesem «Unbekannten» auszusetzen, ist für sie die Überzeugung, dass es mehr Sinn macht, in grösserer Gemeinschaft statt in den eigenen vier Wänden zu leben. Und gemeinsam herauszufinden, wie man friedlich miteinander umgehen und zu Entscheidungen zum Wohle des Ganzen kommen kann.
Zentral dafür sei eine sorgfältige Feedback-Kultur. Zoe ergänzt: Wer von den überall schwelenden Konflikten und den offensichtlichen oder unterschwelligen Strategien von Macht und Gewalt wegkommen wolle, müsse bei sich selber anfangen. Und auch davon wegkommen, anderen die Schuld für Dinge zu geben, die man selber verantwortet. «Es ist eine Art Friedensforschung, die wir hier betreiben.»
Hohe Schule des Feedbacks
Von der Feedback-Kultur habe ich schon gleich am Anfang eine Ahnung bekommen: Die Frage, wo das Gespräch geführt werden soll, wird kurz gemeinsam geklärt, auch ob der Tisch abgeräumt wird und dass die anderswo im Haus Beschäftigten informiert werden sollen. Keiner, der hier einfach über die Köpfe der anderen hinweg bestimmt – und wem es bei einer Sache nicht wohl ist, der oder die interveniert.
So, wie das Angela jetzt im Gespräch macht: Sie wünscht sich, zwei Gänge runterzuschalten mit dem Frage- und Antwort-Tempo. Der Körper soll mit dem Kopf mitkommen können. Feedback-Kultur meine genau dies: die Fähigkeit zu entwickeln, im Moment präsent zu sein, zu reagieren, Gedanken und Empfindungen einzubringen, aber nicht als Ego-Trip, sondern im Gegenteil mit dem Ziel, gemeinsam das Beste für alle wahrzunehmen und zu entwickeln und keine Ungelöstheiten, Konflikte, Aggressionen etc. mitzuschleppen.
Was so, in spröden Wörtern beschrieben, «esoterisch» klingen mag, ist das Gegenteil davon: Es soll gerade nicht ausschliessend sein, sondern alle Anwesenden gleichermassen und hierarchiefrei mit einbeziehen. Das Wort «Wir-Bewusstsein» fällt; die ganze Gruppe dient als Wahrnehmungs- und Experimentierfeld. Und der Blick geht langfristig über die eigene Gemeinschaft hinaus: «Die grosse Vision ist es, eine Kultur aufzubauen, die zum Wohle aller Lebewesen ist», sagt Angela.
Das tönt nach dem Traum von der besten aller Welten – idealistisch, aber vermutlich sehr zeitaufwändig? Im Moment ja, sagen die Gesprächspartnerinnen. Solche Prozesse und Forschungsarbeit brauchten erstmal Zeit und Raum. Langfristig aber kehre sich die Sache um. Denn Konflikte, Widerstände oder was immer, ob bewusst oder unbewusst, seien nicht aus der Welt geschafft, indem man sie ignoriere, sondern schwelten weiter und richteten auf die Länge immer grösseren Schaden an – Kriege seien das beste beziehungsweise schlechteste Beispiel dafür.
«Was wir anstreben, ist radikale Nachhaltigkeit», sagt Zoe. «Es geht darum, keinen emotionalen Müll zu produzieren», ergänzt Darius. Ein Wort gibt das andere, und plötzlich ist sie da, die Idee: Wir bräuchten eigentlich eine Initiative für eine emotionale AHV.
Alles Wichtige kommt ins «Forum»
Aber zurück zum Alltag: Wie geht das konkret – gewaltfrei zu kommunizieren? Wie fallen Entscheidungen, und führt am Ende nicht doch der eine oder die andere das grosse Wort?
Die Methoden, denen auch die Gemeinschaft in Trogen nachlebt, stammen aus den Erkenntnissen der Soziokratie (mehr dazu hier). In Stichworten, von Angela erläutert: Man klärt, worum es gehen soll – «Intention» nennt es die Gemeinschaft, «draussen» in der Restwelt würde man vielleicht von «Zielen» sprechen. Der erste Schritt ist dann, sich «einzutunen» auf die Gruppe als Ganzes.
Eine Methode der Entscheidungsfindung, genannt «Konsent», funktioniert nach dem Prinzip: Wer hinter einer Handlung oder Entscheidung stehen kann, stimmt ihr zu. Wer Einwände hat, bringt diese ein und begründet sie. Ego-Einwände nach dem Muster von «Ich habe keine Lust» gelten nicht. Einwände können zu einer Verbesserung der Entscheidung führen – oder zu einem Abbruch der Übung.
Eine andere Methode, in den regelmässigen «Forum»-Treffen der Gemeinschaft praktiziert, besteht darin, dass eine Person in der Mitte des Raums die «Bühne» bekommt, ihr Anliegen vorträgt und sich von den anderen «spiegeln» lässt – formuliert aber immer in der dritten Person, um möglichst von eigenen Projektionen wegzukommen. Die Devise ist auch hier: «collaboration» statt «competition».
Voraussetzung für das Gelingen solch anspruchsvoller Kommunikation sei es, einen Raum zu schaffen und darin auch Emotio- nen und Körperwahrnehmungen samt ihrer je eigenen «Weisheit» zuzulassen. Das Grossartige: Damit komme eine «kollektive Intelligenz» zum Tragen, die über das Knowhow des und der Einzelnen hinausgehe. «Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten», sagt Zoe. «Wir alle haben unseren beschränkten Blick – deshalb brauchen wir uns gegenseitig, um der Wahrheit näher zu kommen.»
Ein weiteres Zauberwort fällt: Ko-Kreation. So wie die Wahrheiten oder Weisheiten sind auch die Talente unterschiedlich verteilt. Bei gemeinsamen Projekten fliesst ein, was jede und jeder am besten kann. Dazu gehört der dieses Jahr zum dritten Mal stattfindende Aktionsmonat bei der Stauffacher-Kirche in Zürich, wo Workshops, Konzerte, Informationsveranstaltungen etc. angeboten werden. Dazu gehören Musikwochen – eine fand gerade im März statt. Dazu gehört auch ein öffentliches Forum, das einige Mitglieder der Gemeinschaft in Trogen anbieten und das zugänglich ist für Leute, die an Formen der gewaltfreien Kommunikation interessiert sind und sich dort einbringen wollen.
Gemeinsamer Schrank, gemeinsame Kasse
Kollektiv wie mit den Weisheiten geht die Gemeinschaft auch mit materiellen Besitztümern um. Zum Beispiel mit dem gemeinschaftlichen Kleiderschrank, der auch schon medial Wellen geworfen hat. «Ein Wunderschrank», lacht Zoe und findet es nicht störend, sondern im Gegenteil inspirierend, Kleider zu tauschen. Dabei entstand der Schrank aus der Not. «Es gab einen Moment, wo das Projekt stagnierte, wegen den Spannungen zwischen Männern und Frauen. Wir brachten es nicht mehr fertig, zusammen überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Immer, wenn die Frauen zusammen waren, haben wir Entscheidungen mit dem Bauchgefühl getroffen, was einfach viel effizienter und viel entspannter vonstatten ging», erzählt Angela.
Die Konsequenz war: eine getrennte Männer- und Frauenwohnung mit je eigenen Entscheidungen, die dann per Delegation wieder gemeinsam diskutiert wurden. Im Rückblick sei die Lösung ein Glück gewesen, die Trennung bedeutete für die Frauen eine Art «Ermächtigung», ihren eigenen Weg zu finden; heute sei das nicht mehr nötig, und Entscheidungen fielen schneller und einfacher. Geblieben ist der Kleiderschrank.
Für die Miete, das Essen und andere tägliche Auslagen gibt es eine gemeinsame Kasse, in die die Mitglieder ihren Beitrag entrichten. Sechs Mitglieder der Gemeinschaft gehen noch einen Schritt weiter und geben ihr ganzes Einkommen in eine zweite, die «Piratenkasse». Ein Mitglied der Gruppe führt die Kasse, über deren Verwendung entscheiden die Piraten gemeinsam. Und auch grössere Anschaffungen fürs Kollektiv (aktuell muss das altersschwache Auto ersetzt werden) werden gemeinsam entschieden – wer die Aufgabe an die Hand nimmt und die Initiative ergreift, ergebe sich von selber. Neben dem kollektiven Entscheiden sei auch das kollektive «Überlassen» ein Lernfeld, sagt Angela. Und offensichtlich funktioniert das System. «Wir reden erstaunlich wenig über Finanzen», sagt Mara.
Und wie steht es um «Mein und Dein» in Partner-Beziehungen? Da gebe es «Baustellen», lachen die Gesprächspartnerinnen. Das Ideal heisse auch hier: Offenheit, Loslassen-Können, Freiheiten zugestehen so weit, wie es den Einzelnen wohl und für das grosse Ganze heilsam ist. Eine Gemeinschaft im Rücken zu haben und damit nicht alle Bedürfnisse auf eine einzige Person «abladen» zu müssen, könne entspannend sein – aber auch konfliktträchtig. Freiheit könne eine Überforderung sein, und umgekehrt: An Spannungen kann man wachsen. Ein weites Feld…
Auf der Suche nach dem Friedensdorf
Wachstum beschäftigt die Gruppe nun auch äusserlich: Sie ist zu gross geworden für das kleine Haus und sucht einen neuen Ort. Bis dieser gefunden ist, werden einige Mitglieder der Trogener Gemeinschaft enger mit der seit Jahrzehnten bestehenden Gemeinschaft Hagenbuch bei Aadorf zusammenarbeiten, einer landwirtschaftlichen Kooperative, die ebenso ohne Eigenbesitz auskommt.
Ein paar bleiben in Trogen, zur Diskussion stehen auch weitere Gemeinschaften, die sich wie sie dem Global Ecovillage Network GEN zugehörig fühlen. Dieses 1995 gegründete Netzwerk vereinigt allein in Europa über 90 Gemeinschaften und Ökodörfer, in der Schweiz etwa das Zentrum der Einheit Schweibenalp, Schloss Glarisegg oder den genannten Yamagishi-Hof in Hagenbuch.
Der partielle Auszug sei eine Zwischenlösung, erklärt Angela – denn auf lange Sicht sei es ihnen allen klar, dass sie als Gemeinschaft weiter existieren und zusammenarbeiten wollen. Ziel bleibt die grosse Vision: ein Friedensdorf. Ein Muster dafür gäbe es in Trogen selber – das Kinderdorf Pestalozzi mit seinen vielen, teils leerstehenden Häusern. Vom Zmorgetisch in der Blatten kann man es erahnen, weit oben oberhalb des Dorfs. Vorläufig gilt aber noch der Satz auf einem der gerahmten Bildchen an der Wand: «Es git kein Ort, woni lieber wett sii.»
Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.