Der «Klassikkampf» lohnt sich

Elitekunst, Starsystem, Kulturindustrie, Konsumismus? Alles wahr – und daneben beschert uns die Klassik die grossartigsten Musikerlebnisse. Was ist da los? von Berthold Seliger
Von  Gastbeitrag

Im Juni 2016. Wir sitzen in der Berliner Staatsoper, gleich beginnt die Götterdämmerung, der letzte Teil von Wagners «Ring». Hinter uns sagt ein älterer Mann zu seiner Frau: «Puh, jetzt müssen wir nochmal über fünf Stunden aushalten!» Vorfreude oder gar Begeisterung hören sich anders an.

Oder in einem Konzert in der Berliner Philharmonie: Betrachtet man die Besucher auf den besseren Plätzen, sieht man immer wieder Menschen, die sich zu langweilen scheinen, die ganz offensichtlich nicht wegen der Musik in die Philharmonie gepilgert sind, sondern weil es zum guten Ton, zu ihrem gesellschaftlichen Status gehört, über ein Philharmoniker-Abo zu verfügen, oder weil vielleicht die Ehefrau gedrängt hat; und nun sitzt der Ehemann die zwei Stunden ab, bevor die Musik endlich vorbei ist und es zum Absacker in eines der nahegelegenen Luxusrestaurants oder in eine der Bars geht («Die Leidenschaft für gutes Essen», wirbt das gegenüber der Philharmonie liegende Grand Hyatt Berlin im Programmheft der Berliner Philharmoniker für seinen «Gourmet Club»).

Sitzt man in Konzertsälen, Philharmonien und Opernhäusern, aber auch Theatern, dann stellt man fest, dass weder die Menschen um einen herum im Zuschauerraum noch jene auf der Bühne die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Die klassische Musik ist heute wieder eine Kultur der Eliten, und zwar sowohl der Bildungselite als auch der klassischen (also wirtschaftlichen) Elite. Natürlich denkt und handelt die Elite anders als die grosse Menge der Bevölkerung, und ebenso natürlich pflegt die Elite eine andere Kultur. Allerdings betreibt sie diese Kulturpflege heute nicht mehr nur im stillen Kämmerlein, sondern bevorzugt öffentlich. Die «neuen gesellschaftlichen Machthaber» (Niklas Maak) okkupieren zu diesem Zweck die öffentlichen Museen, denen sie «als wertsteigernde Durchlauferhitzer» zeitweise ihre Sammlungen überlassen, und sie dominieren den öffentlichen Raum, in den sie ungebremst ihre Investorenarchitektur und ihre Riesenkunstobjekte stellen und «zeigen, wer dort neuerdings das Sagen hat: wenige Private, und nicht mehr der Staat oder die Bürger».

Im Bereich der Musik ist die Sache etwas komplizierter, denn die Elite kann zwar ein Kunstwerk für ein paar Millionen (oder für ein paar Millionen Dollar mehr) kaufen und ins nächstbeste Museum hängen, sie kann aber nicht einfach ein Stück Musik kaufen, wie es die Herrscher vergangener Zeiten noch taten. Heute werden Besitzansprüche auf andere Weise geltend gemacht. Also «geben sie einen Teil ihres Vermögens», wie die bürgerliche Presse das Steuersparmodell der Eliten zur Finanzierung von öffentlichen Kulturbauten wie der Hamburger Elbphilharmonie zu nennen beliebt, damit sie in den Sälen öffentlicher Gebäude, die sie über rote Teppiche betreten, mit Namen genannt werden. 77 Millionen der gut 800 Millionen Euro Baukosten der Hamburger Elbphilharmonie wurden von «Mäzenen» aufgebracht, darunter der Versandhauskonzernerbe Michael Otto oder die Immobilienkönige Helmut und Hannelore Greve, nach denen ein Foyer der neuen Elbphilharmonie benannt ist (auf die Hamburger Normalbürgerinnen und -bürger, die den Löwenanteil der Baukosten aufbrachten, wird natürlich kein Raum getauft). Wenn man etwas weniger Geld übrig hat, kann man ab einer «Zuwendung» von 100’000 Euro bei der «Elphi» Spender mit Platin-Status werden – da nehmen sich die Geschäftsmodelle der Stuhlpatenschaften, die man neuerdings allüberall in klassischen Konzert- und Opernhäusern anbietet, geradezu preisgünstig aus.

«Die Branche ist so verzweifelt, dass sie schon jubelt, wenn eine Studie herausgefunden haben will, dass immerhin knapp 15 Prozent der klassikaffinen Bevölkerung unter dreissig Jahre alt sind.»

So könnte dieser Essay beginnen, und es wäre nichts falsch daran. Es könnte aber auch damit losgehen, dass ich vom Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie unter Jonathan Nott beim Musikfest Berlin 2016 erzähle. Von einem der schönsten und beglückendsten Konzerte, das ich in den letzten Jahren erleben durfte. Das formidable Orchester, das ich vorher noch nie gesehen hatte, führte Edgard Varèses Deserts auf und Beethovens Eroica, und zwischendrin spielte der unglaubliche Geiger Pekka Kuusisto György Ligetis Konzert für Violine und Orchester aus den Jahren 1990 bis 1992, ein Werk, von dem der Komponist erzählte, dass darin «heterogene Elemente und zahlreiche Schichten von bewussten und unbewussten Einflüssen» verknüpft werden, «afrikanische Musik mit fraktaler Geometrie, Maurits Eschers Vexierbilder mit nicht-temperierten Stimmungssystemen, Conlon Nancarrows polyrhythmische Musik mit der Ars subtilior des 14. Jahrhunderts». Wir hören Naturtöne von den Blechbläsern, Mikrointervalle und Ligetis typische Mikropolyphonie; diese Musik ist voller Ironie und voller spieltechnischer Herausforderungen, ebenso ein glänzendes Virtuosenstück wie eine anspruchsvolle, tiefe Musik, und man fragt sich, warum Ligetis Violinkonzert nicht regelmässig auf den Programmen klassischer Orchesterkonzerte steht. Warum immer nur Mendelssohn-Bartholdy oder Bruch?

Berthold Seliger: Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle. Matthes & Seitz, Berlin, Fr. 29.90.

Nach seiner hinreissenden Interpretation des Ligeti-Konzerts spielt Pekka Kuusisto als Zugabe einen schwedischen Folksong aus den 1850er-Jahren, das Emigrantenlied Vi salde vara hemman («Wir verkaufen unser Zuhause»), das erzählt, wie die von Armut und Hunger gepeinigten Skandinavier gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und nach Nordamerika auszuwandern, wie es damals auch viele deutsche Emigranten getan haben – typische Wirtschaftsflüchtlinge also. Und Kuusisto stellt dieses Lied in einer kurzen Ansprache ans Publikum in den Kontext unserer Tage, spricht von den Abertausenden von Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und nach Europa auszuwandern.

Ein hervorragendes Konzert mit moderner, zeitgenössischer und nach der Pause revolutionärer klassischer Musik, ein Konzert, bei dem man das Engagement der jungen Musiker und Musikerinnen ebenso spürt wie ihr Können, ein Konzert, das sich so in unsere Lebensmitte schleicht wie seinerzeit 1805 Beethovens Eroica in das Leben seiner Zeitgenossen. Und ein Konzert, bei dem in der Berliner Philharmonie nicht einmal ein Fünftel der Plätze besetzt waren, und das von den Grossfeuilletons komplett ignoriert wurde…

Diese beiden Erlebnisberichte sind zufällig, aber doch symptomatisch und zeichnen ein Bild von den Problemen, mit denen die klassische Musik in unserer Gesellschaft konfrontiert ist.

Die Konzertveranstalter, Opernhäuser und Radiosender sorgen dafür, dass die immergleichen Stücke aufgeführt werden, ein «allgemeiner Routine-Express-Zug von Beethoven bis Sibelius und zurück», wie Hanns Eisler die Reduzierung von klassischen Konzertprogrammen auf nur einige wenige Komponisten einmal tituliert hat. Die Konzertbesucherinnen und -besucher werden nicht gefordert, sondern sollen sich am überschaubaren Repertoire einer Wohlfühlklassik laben, an «schönen» Melodien und Harmonien. Wie sieht die «Klassik» heute denn aus? Auf der einen Seite erleben wir eine Art «Hochleistungsklassik» (Stefan Siegert) unter dem Diktat der Perfektion – man kann das gut bei US-amerikanischen Orchestern beobachten, die kaum ein einziges Mal «falsch» spielen, also Fehler machen, wie das Leben sie eigentlich mit sich bringt. Artur Rubinstein, der von sich selbst – sicher auch etwas kokett – behauptete, bei seiner ersten USA-Tournee noch jede Menge falsche Töne gespielt zu haben, erklärte in den 1960er-Jahren bei einem Pianistenwettbewerb in den USA einem jungen Pianisten: «Man erwartet hier in den USA von uns Pianisten, dass wir auch die kleinste Note nicht übersehen. Schrecklich ist das.»

Bei den meisten Aufnahmen der sogenannten klassischen Musik, die die Kulturindustrie heutzutage herstellt, wird massiv retuschiert, werden im Nachhinein Stellen, die nicht auf Anhieb «perfekt» gelungen sind, in einer besseren Variante eingeflickt, wie ohnehin häufig die Werke nicht einmal komplett eingespielt, sondern in Einzelstücke zerlegt werden – die Tonmeister fügen das dann im Studio zusammen. Es geht um Perfektion, die Einzigartigkeit vorgaukelt – dabei kommt es in der Musik nicht auf Perfektion, sondern auf Kreativität an. (…)

Die Klassikszene steckt in einer Systemkrise: Zwar sind die Philharmonien und Opernhäuser immer noch voll, wenn die etablierten Kräfte musizieren oder die von den eingebetteten Journalisten gehypten neuen Stars ihre Gastspiele geben. Doch wenn man im Konzert einmal den Blick durch den Saal schweifen lässt, stellt man fest: Senioren, soweit das Auge reicht – der sogenannte Silbersee, das Meer von grau- und weisshaarigen Köpfen. Und eben Menschen, die ihre Abos absitzen, weil es bis heute zum Klassik-, oh, Verzeihung, natürlich zum Klassenbewusstsein gehört, dabei zu sein, wenn die Philharmoniker aufspielen. Das Durchschnittsalter der Konzertbesucher liegt bei ca. 60 Jahren. Die Klassik hat ein Altersproblem, daran ändern auch die wenigen herausragenden Kammermusikreihen nichts, bei denen man Musikliebhaber und -liebhaberinnen aller Altersklassen und auch etliche sachkundige und neugierige junge Menschen antreffen kann. Das sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und die Branche ist so verzweifelt, dass sie schon jubelt, wenn eine Studie herausgefunden haben will, dass immerhin knapp 15 Prozent der klassikaffinen Bevölkerung unter 30 Jahren alt sind. Illusionslos betrachtet, muss das Urteil verheerend ausfallen: Die «Klassik» steht mit dem Rücken zur Wand.

Erfreuliche Universität im Palace St.Gallen:

17. Oktober, 20.15 Uhr: «Lecture Show» mit Berthold Seliger

31. Oktober, 20.15 Uhr: Zur Lage der Klassik in der Ostschweiz, Podium mit Helena Winkelman, Christian Braun und Florian Scheiber

7. November, 20.15 Uhr: Porträtkonzert Charles Uzor, mit Jeannine Hirzel (Sopran) und Ute Gareis (Klavier)

Wenn die Situation der «klassischen Musik» also so ist, wie sie ist, eine unerquickliche Mischung aus Elitekunst, Hochleistungsklassik, Starsystem, Kulturindustrie, Konsumismus, Biedermeier und all dem, was sonst noch zu unseren Jahren des Missvergnügens beiträgt – warum dann nicht einfach die Klassik aufgeben, sie also den Eliten überlassen? Warum sollen wir überhaupt in den Klassikkampf ziehen? Warum hören wir heute noch Werke wie die von Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Mahler, Debussy oder Bartók? Warum lesen wir immer noch Shakespeare, Goethe, Hölderlin, Heine oder Flaubert und Zola? Weil die Werke dieser Autoren und Komponisten uns etwas über unser Dasein vermitteln, das wir nirgends sonst erfahren, weil sie uns etwas über unser Menschsein verraten, weil sie uns helfen, die Welt zu verstehen (und nur, wenn wir die Welt besser verstehen, können wir sie auch ändern), weil sie menschliche und gesellschaftliche Konflikte spiegeln und diskutieren und nicht zuletzt: Weil sie auch Trost spenden, Trost, den wir angesichts der Verhältnisse dringend benötigen. Die Musik, die Kunst bleibt uns mitunter als «einzige Rettung aus einer von Grund auf falschen Welt», wie Adorno angemerkt hat, «und zwar nicht, weil sie richtiger wäre, sondern weil sie um das universale Falsche weiss».

«Warum hören wir immer noch Klassik? Weil die Werke uns etwas über unser Dasein vermitteln, das wir nirgends sonst erfahren, weil sie uns etwas über unser Menschsein verraten.»

Die Cembalistin Zuzana Růžičková, die als junges Mädchen von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz und Bergen-Belsen gebracht worden war, erklärt in einem Interview mit 90 Jahren, dass es im Leben darauf ankomme, ein «Sparbuch» anzulegen. Dieses Sparbuch sei, was man gelesen, was man gesehen und was man gehört habe. «Das kann Ihnen keiner nehmen. (…) Wenn dieses Sparbuch nicht da ist oder leer ist, dann sind Sie arm. Richtig arm!» Denn Musik, denn einzig die Künste machen uns zu Menschen, und nicht Besitz und «Besitzfimmel». Und wenn wir am Boden liegen sollten, wenn es uns einmal wirklich schlecht geht, dann werden wir nicht auf Konsumgüter und nicht auf Besitz oder Status zurückgreifen können – all dies ist Tand und letztlich zu nichts nütze. Und diese Wahrheiten können und werden uns helfen und uns überleben lassen, so wie die junge Zuzana Růžičková im KZ Theresienstadt Bachs Sarabande in e-Moll aus der Englischen Suite No. 5 auf einem Zettel mit sich und vor allem in sich trug.

«Um ein Kunstwerk zu empfangen, muss die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden», erkannte Ferruccio Busoni. Der Musikvermittlungsforscher Holger Noltze hat 2010 in seinem Buch Die Leichtigkeitslüge erklärt, dass Musik auf ideale Weise Gefühl und Verstand kurzschliessen kann, dass dazu aber Anstrengungen unternommen werden müssen. Anstrengungen, die heutzutage geradezu als unzumutbar gelten. «Medien, die ihre Wirksamkeit in Quoten messen, haben es am liebsten eingängig» und setzen den Konsumenten bevorzugt leichte Häppchen vor. Musik bedarf, wie alle ernsten Künste, der Vermittlung, allerdings darf «Vermittlung nicht mit Vereinfachung verwechselt» werden. «Musik ist alles andere als einfach», aber wenn man erfährt («lernt»), «was in diesen Musikstücken verhandelt wird, mit welchen Mitteln dies geschieht und was die hier zu gewinnenden ästhetischen Erfahrungen mit uns, mit einem selbst zu tun haben», dann zieht man einen grossen Gewinn aus ihr. Diese Musik ist unbestritten ein Geschenk – aber man bekommt sie, wie Noltze bemerkt, eben «nicht geschenkt». Man muss auch das Hören von Musik lernen – «die Langzeit-Kunst des Entgegenhörens, des Nachhörens und Erinnerungshörens». Um die Werke der ernsten Musik wirklich erfahren zu können, muss man sie verstehen, benötigt man Wissen, benötigt man: Bildung! «Es ist des Lernens kein Ende», schreibt Robert Schumann im Anhang seines Albums für die Jugend op. 68 als letzte «Conclusio» seiner Musikalischen Haus- und Lebensregeln (und von Lenin ist das «Lernen, lernen und nochmals lernen!» überliefert).

Die Situation sieht düster aus: Die Gesellschaft ist weitgehend zusammengebrochen, nahezu alle Lebensbereiche sind individualisiert worden. Wir müssen uns die Gesellschaftlichkeit zurückerobern. Und wir müssen uns all das, was dazu dient, neu erkämpfen – die Gleichheit, die Solidarität, die Gesellschaftlichkeit an sich, die Bildung, insbesondere die musikalische und künstlerische Bildung, und die ernste Musik. Ziehen wir in den Klassikkampf. Die Sache der ernsten Musik ist es wert, für sie zu kämpfen. Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! En avant!

Der Text erschien im Oktoberheft von Saiten und ist eine gekürzte Fassung der Einleitung, genannt «Ouvertüre» zum Buch Klassikkampf von Berthold Seliger.