, 4. November 2021
keine Kommentare

Zelle des Underground

Keller sind die Geburtsstätten der meisten Subkulturen. Das war nicht immer so. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren sie Symbol für Freiheit und Widerstand. Erst durch die Postmoderne wurde der «Untergrund» zum Ort der Gegenkultur und des Exzesses. Eine Spurensuche.

Im Keller pumpen die Bässe stärker.

Keller – vor allem fremde – sind mysteriös, unheimlich, beklemmend, feucht und voller Geheimnisse. Im Keller lauern Spinnen an der Decke und Monster hinter der Treppe. Eine Horrorvorstellung für viele Menschen, nicht nur für Kinder. Der Keller macht vielen Angst, weil er dunkel und verborgen ist. Er verkörpert die Urangst der Menschen vor der Dunkelheit.

Der Keller ist ein stickiger Raum ohne Fenster mit hohem Cortisol-Level, ohne Weitblick, in dem sich die Zeit und das Zeitgefühl aufzulösen scheinen. Der Keller hat etwas Verruchtes, Dreckiges und Abgefucktes. Die Treppenstufen hinab markieren eine Art Zwischenraum und Schleuse in eine andere Welt. Hinab in die privaten Abgründe der Waschküche, Modelleisenbahn oder BDSM-Ausrüstung. Der Gang in den Keller bedeutet immer auch einen Abschied vom Alltäglichen, Gewohnten, Sauberen, Geschliffenen, Scheinheiligen und Sichtbaren.

Genau deshalb war der Keller auch immer Experimentier- und Abgrenzungsraum gegenüber Autoritäten, Eltern, Schule, Staat, Vorgesetzten. Die Techno- und Clubkultur wäre ohne den Keller wahrscheinlich nicht denkbar. Der Keller ist Übungsraum und Schauplatz des Afterhour-Raves zugleich. Er ist die kleinteilige Verkörperung der Underground Culture. Unter Underground verstehen wir heute Avantgarde, Subversion, Provokation und Irritation. Dabei war die Bedeutung des Begriffs Underground früher eine ganz andere.

In der Antike und im Mittelalter beispielsweise schienen Königen, autoritären Regimes oder Kriegsverbrechern die Keller als geeignete Orte, um tatsächlich oder auch nur vermeintlich böse Menschen von den «Guten» in der Gesellschaft zu trennen. Das Christentum nennt die Unterwelt nicht umsonst bereits seit 2000 Jahren Hölle.

Besser wurde es um 1800. Mit dem Aufkommen der ersten Fabriken und Dampfmaschinen entdeckten die Menschen den Untergrund erstmals als Arbeitsstätte. Berg- und Kohlegruben, der Bau der ersten U-Bahnen sowie die Elektrifizierung um die Wende zum 20. Jahrhundert beschleunigten die Expansion in den Untergrund. Erstmals wurde Dunkelheit nicht mehr mit dem Fegefeuer gleichgesetzt, sondern mit Licht und Fortschritt.

Die Menschen glaubten sogar, mit der Ausdehnung in den Untergrund die Welt retten zu können. Es ist kein Zufall, dass im gleichzeitig neu entstandenen Genre der Science Fiction Jules Vernes in Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864) eine wissenschaftliche Expedition auf den Grund eines isländischen Vulkans beschreibt. Tief unter der Erde entdecken die Wissenschaftler im Roman ein Ökosystem mit Flüssen, Ozeanen, riesigen Insekten und übergrossen Humanoiden.

Untergrund als Teil der Friedens- und Demokratiebewegung

Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Keller und andere unterirdische Räume erstmals konspirativ für politische Zwecke genutzt. In Russland trafen sich in dunklen geheimen Kellern Gruppen der Kommunistischen Internationalen und diskutierten darüber, wie sie den Zaren am besten verjagen könnten. Der Zar wiederum bezeichnete die aus dem Untergrund agierenden Kommunisten als «Troglodyten», als in Löchern lebende Kreaturen. Nicht nur der Zar, die gesamte Welt fürchtete sich damals vor der «drohenden roten Gefahr» aus dem Untergrund. Wer im Untergrund war, galt als kriminell und boshaft.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 änderte sich dieses Verständnis radikal. Erstmals galten Keller als Orte der Demokratie, Freiheit und des Widerstandes. Künstler:innen, die vor dem Faschismus ins Ausland geflohen waren, forderten ein vereintes Europa des Untergrunds, um gegen Hitler und Mussolini Widerstand zu leisten. In Deutschland selbst entstanden Widerstandsgruppen, die in verborgenen Kellerräumen versuchten, den NS-Terror zu beenden. Untergrund war nun ein Synonym für Demokratie, Freiheit und Antifaschismus.

Die heutige Bedeutung erlangte der Begriff Underground erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Einerseits war die faschistische Bedrohung weg und in Osteuropa war der aus dem Untergrund agierende Antifaschismus an der Macht. Obwohl der neue Kalte Krieg potenziell eine atomare Bedrohung für den Westen darstellte und die Demokratie in Europa noch auf wackeligen Beinen stand, ertränkten die Menschen ihre Ängste im neu aufkommenden Massenkonsum. Ein eigenes Auto und eine Waschmaschine waren verlockender als soziales Engagement für Demokratie in einem dunklen Keller. Spätestens ab den 1960er- und 1970er-Jahren etablierte sich der heutige Underground-Begriff.

Widerstand bedeutete in Deutschland nun Auflehnung gegen die elterliche Nazigeneration oder in der Schweiz gegen die Spiessigkeit der bäuerlichen Dorfgesellschaft. Französische Intellektuelle wie Albert Camus, der während dem Krieg in der Résistance gekämpft hatte, sahen den Existenzialismus als neuen Untergrund und Form der gesellschaftlichen Befreiung. Underground war nun Gegenkultur, Provokation und Auflehnung.

Die Beat-Generation hatte ihre eigenen «Underground Heroes», und Lou Reed taufte 1964 seine Band dem Zeitgeist entsprechend «The Velvet Underground». Sex, Drugs and Rock’n’Roll prägten die Jugendkulturen vom Hippie-Paradies in Kalifornien über London bis nach Zürich oder St.Gallen.

Während in den Jahren davor Menschen unfreiwillig in die Keller hinabgestiegen waren, um anonym und unsichtbar gegen den Faschismus zu kämpfen, war der «Abstieg» in den Untergrund nun freiwillig, ja bewusst gewählt und inszeniert als Kunstperformance. Selbstdarstellung, Selbstverwirklichung sowie sinnliche Erfahrungen durch Sex und Drogen und soziale Grenzüberschreitungen der spiessig verkrusteten bürgerlichen Moralvorstellungen waren Teil dieses Protestes.

Untergrund als Innovationskraft im 21. Jahrhundert

Frühestens seit der vor 60 Jahren beginnenden Postmoderne, spätestens aber seit den Anfängen der Techno- und Clubkultur Mitte der 80er-Jahre, ist der Keller ein Symbol für Underground- und Gegenkultur. Im Keller pumpen nicht nur die Bässe stärker gegen die Magengrube, auch die Wände sind abgefuckter als in den sauber gestylten und klinisch toten Mainstream-Diskotheken der gentrifizierten Innenstädte; dieses Raue und Wilde, Exzessive, Hedonistische, aber auch Kommunikative und Kreative ist die tiefe Grundessenz der Underground Culture. Der Dancefloor wurde in dieser Kultur zum Sinnbild der sexuellen Befreiung und physischen Verschmelzung.

Im fortschreitenden 21. Jahrhundert ist der Underground längst im Mainstream angekommen. Underground und subversive Kunstformen sind heute oft nur noch eine verblasste Metapher für die längst vergangenen wilden und verruchten Zeiten. Mit der Entmaterialisierung physischer Objekte durch das Internet – die Schallplatte/CD wurde zum MP3, das Papierfoto zur JPG-Datei, der Videofilm zum Stream – haben sich auch die Orte des Undergrounds selbst in den digitalen Raum verlagert. Untergrund Culture findet sich heute als neue Form der Gegenkultur in den Tiefen des Dark- oder Deep Webs wieder und wird oft als Ort von Kriminalität und Drogenhandel missverstanden.

Obwohl das Netz enorm wichtig ist für neue Kulturen, zeigt die Pandemie exemplarisch, wie wichtig auch physische Freiräume sind. Freiräume, in denen Neues entsteht und gesellschaftliche Normen ausser Kraft gesetzt sind, werden aber immer rarer, weil die Keller und Fabrikhallen unserer Städte zunehmend den Fantasien von Investoren zum Opfer fallen. Underground ist aber die Essenz für jede Stadt, jede Kultur und jede Zivilisation. Underground ist schliesslich der Mainstream von morgen.

Philipp Bürkler, 1977, ist Künstler und Journalist. Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!