Der grösste Feind ist der Zynismus und was jetzt geschehen muss: 10 Punkte

Das beste Mittel: solidarische Bewegungen wie jene der Klimajugendlichen. Ein Kommentar samt 10-Punkte-Plan von Bettina Dyttrich.
Von  Gastbeitrag
Seit Dezember 2018 wird auch in St.Gallen regelmässig fürs Klima gestreikt. (Bild: Andri Bösch)

Es sieht nicht gut aus. Je mehr die Temperaturen steigen, desto grösser ist das Risiko für unkontrollierbare Rückkopplungsschlaufen: Der Permafrostboden im globalen Norden taut auf und setzt grosse Mengen Methan frei, die die Erwärmung weiter anheizen. Ähnliches geschieht, wenn Dürren Wald- und Moorbrände fördern, bei denen viel
 CO2 in die Luft geht. Niemand weiss, ob sich diese Teufelskreise noch stoppen lassen.

Genauso weiss niemand, wie wir aus der wirtschaftlichen Sackgasse hinauskommen. Der Kapitalismus hat einen Konstruktionsfehler: Er zerstört seine eigenen Grundlagen. Eine Wirtschaft ohne Wachstumszwang ist durchaus denkbar. Aber welcher Weg führt dorthin? Vom Geldsystem bis zur Altersvorsorge: Wir stecken in einem System fest, das nur mit Wachstum funktioniert. Weiter zu kutschieren wie bisher, einfach mit erneuerbaren Energien, wird die grossen Probleme nicht lösen. Und es geht hier nicht nur ums Klima – sondern noch um ein paar andere Zeitbomben wie begrenzte Ressourcen, toxische Stoffe und Artensterben.

Es gäbe Grund genug, alle Zuversicht zu verlieren. Dass die streikenden Schülerinnen und Schüler diesem Impuls nicht nachgeben, macht Hoffnung. Die Klimabewegung wird das Klima wahrscheinlich nicht retten, aber sie rettet Werte, ohne die eine Gesellschaft nicht auskommt. Solidarische Bewegungen sind ein Gegenmittel zum Zynismus der hämischen Onlinekommentare, wenn ein Flüchtlingsboot untergeht; ein Gegenmittel zum brutal banalen Kern des Kapitalismus, für den die Welt nur aus Ressourcen besteht, die es zu nutzen und auszubeuten gilt.

Wirklich bedrohlich an der Klimaerwärmung ist nicht die Hitze, sondern das grosse Hauen und Stechen, das losgehen könnte, wenn die Bedingungen noch unwirtlicher und die Ressourcen ernsthaft knapp werden. Entscheidend wird sein, dass sich genug Leute dem Recht des Stärkeren verweigern. Die Klima-Bewegung ist ein Ort, wo dieser Widerstand geübt werden kann. «Eine andere Welt ist möglich» scheint ein banaler Slogan zu sein. Aber man kann ihn gar nicht ernst genug nehmen.

 

Was jetzt passieren muss: Zehn Punkte

Fünf Punkte für das tägliche Leben:

  1. Verkehr:
    Es ist ganz einfach, auch wenn es vielen schwer fällt: Nicht Autofahren, nicht fliegen. Sind epische Interrail-Reisen nicht sowieso viel spannender als hektische Städteflüge?
  2. Essen:
    Fleisch und Eier radikal reduzieren, auf null oder fast. Kochkulturen mit einer grossen fleischlosen Tradition helfen bei der Umstellung (Hummus, Tempeh, Kimchi …). Biomilchprodukte und hin und wieder ein Stück Rind oder Lamm aus Weidehaltung liegen drin (siehe Punkt 7). Aber frische Tomaten gibts erst im Juli.
  3. Wohnen:
    Raus aus dem Einfamilienhaus, mit mehr Menschen in grösseren Häusern leben, weniger Privatwohnraum, dafür Gemeinschaftszonen: Dass so etwas durchaus vergnüglich sein kann, zeigen die Schriften des Zürcher Autors Hans Widmer alias P.M.
  4. Geld
:
    Die Bank und die Pensionskasse auffordern, kein Geld klimaschädlich zu investieren. Zur Alternativen Bank oder
 zur Freien Gemeinschaftsbank wechseln. Noch wichtiger: Weniger verdienen, weniger besitzen. Denn es ist eine Illusion zu glauben, man könne das heutige Finanzvolumen nachhaltig und gewinnbringend anlegen.
  5. Gebrauchsgegenstände:
    Viel weniger Gegenstände, dafür dauerhafte und schöne: Beim Konsum muss der Entzug radikal sein. Und in vielen Bereichen gibt es heute keine nachhaltigen Lösungen. Insbesondere bei den elektronischen Geräten sind die Herausforderungen riesig. Und bei den Kleidern: Konventionelle Baumwolle gehört zu den umweltschädlichsten Ackerkulturen der Welt. Ein Stoff der Zukunft ist Schafwolle,
 die heute so unrentabel ist, dass sie oft entsorgt wird. Pilze liefern Plastikersatz und sogar Baumaterial. Aber: Es reicht nur, wenn viel weniger konsumiert wird.

 

Fünf Punkte für die Politik:

  1. CO2-Lenkungsabgabe
:
    Es braucht eine Abgabe auf alles, was fossile Energieträger verbrennt, und sie muss so hoch sein, dass es wehtut. Gleichzeitig muss sie befristet sein, denn der Staatshaushalt darf nicht von etwas abhängig werden, das auf null sinken muss. Mit dem Geld wird der ökologische Umbau finanziert, und ein Teil fliesst als einkommensabhängige Abgabe zurück an die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Denn die lebt oft in schlecht isolierten Mietshäusern 
mit Ölheizung und kann dagegen wenig tun.
  2. Umbau der Landwirtschaft:
    Handel ist auch im Lebensmittelbereich zum Selbstzweck geworden, was katastrophal für die Umwelt ist. Eine Re-Regionalisierung tut not – ein grosser Teil der Grundnahrungsmittel soll wieder aus der Nähe kommen. Das geht nur, wenn die Zahl der Nutztiere stark sinkt und auf dem Acker wieder Nahrung für Menschen statt Tierfutter wächst. Doch die Landwirtschaft muss nicht völlig vegan werden: Kühe, Schafe und Ziegen nutzen das Grasland im Hügel- und Berggebiet, das nicht gepflügt werden kann, und pflegen so Landschaften mit einer hohen Artenvielfalt. Auch
 die Landwirtschaft braucht eine Dekarbonisierung: weg von schweren Maschinen, Kunstdünger und Pestiziden, 
hin zu schlauen, wissensintensiven Biolösungen und mehr menschlicher Arbeit, die sich durchaus mit Hightech
 (zum Beispiel Jätrobotern) ergänzen lässt.
  3. Umbau der Infrastruktur:
    Alles, was heute gebaut wird, muss auf eine fossilfreie Zukunft ausgerichtet sein: Gebäude werden so konstruiert, dass sie sich selbst mit Energie versorgen, Ölheizungen gehören verboten, neue Strassen liegen nicht mehr drin.
 Auch Elektroautos sind eine Ressourcenverschleuderung.
  4. Arbeitszeitverkürzung und Care-Offensive
:
    Im Care-Bereich – Pflege, Betreuung und Sorge für Kinder, Alte, Kranke, aber auch gesunde Erwachsene – geht die Arbeit nie aus. Care-Arbeit ist nötig, aber «ineffizient» und wirft mit wenigen Ausnahmen keinen Profit ab. Wir brauchen eine Politik, die gute Bedingungen für sie schafft: Eine Arbeitszeitverkürzung gibt Raum für unbezahlte Care-Arbeit ohne Stress, Investitionen in die bezahlte Care-Arbeit schaffen sinnvolle, umweltfreundliche Jobs. Für ein gutes Leben mit weniger Konsum und mehr Zeit füreinander.
  5. Ökonomische Forschungsoffensive
:
    Die Wirtschaft muss schrumpfen, sonst werden die Ressourcen der Welt restlos aufgefressen. Wie kann sie das, ohne dass sie kollabiert? Wie gelingt der Übergang zu Produktionsweisen und Sozialwerken, die nicht auf Wachstum angewiesen sind? Das sind die wichtigsten Fragen überhaupt für die Wirtschaftswissenschaften. Alle Wirtschaftsfakultäten sollen sich darauf konzentrieren. Auch an der HSG.

 

Bettina Dyttrich, 1979, ist Redaktorin der Wochenzeitung WOZ. Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.