Der Faden des Schicksals

Sprechblasen aus Aluminium zieren die terrakottafarbenen Wände im Ausstellungsraum. Quer durch den Raum gehängt, schwebt schwerelos ein transparentes Stoffelement. Die 5,2 Meter breite Stoffbahn ist bestickt: schwarzer Faden reiht Stich für Stich Worte aneinander, zwischen der Schrift sind Arbeitsgesten darstellende Hände platziert, signaturähnliche Zeichen und das Abbild einer Frau.
Der schwarze Faden spinnt die Worte weiter zu Sätzen wie: «What, who believes in the future?» oder «We need more artists, more poetry, less satellites – more stars!». Krakelig anmutend aufgrund des naiven Stickschemas, erzählen sie eine mythologische Geschichte. Oder ist es doch reale Gegenwart?
Gespräche unter Göttinnen
Die 1983 in Meyriez FR geborene Stéphanie Bächler thematisiert in ihrer Arbeit die kritischen Produktionsbedingungen in der Textilindustrie. Mittels besonderem Handwerk und unzähligen Referenzen kreiert sie eine grosse textile Reflexion. Ein methaphorischer Dialog – der gestickte Text auf den Stoffbannern – stellt die verschiedenen Positionen der Moiren, der drei Schicksalsgöttinnen dar. Clotho, Lachesis und Atropos liefern sich einen Wortwechsel zwischen Plauderei, kapitalistischen und humanistischen Komponenten.
Die fata scribunda, das Schicksal, wird von den drei Parzen, wie sie in der römischen Mythologie genannt werden, schreibend gedacht. Clotho spinnt den Lebensfaden, Lachesis bemisst die Länge, Atropos schneidet ihn durch. Sie können sowohl gemeinsam, als auch einzeln agieren.
Stéphanie Bächler – The Fates are talking: bis 23. Oktober, Espace Nina Keel, Linsebühlstrasse 25, St.Gallen.
Öffnungszeiten: Donnerstag, 17-19 Uhr; Freitag 12-18 Uhr; Samstag, 11-14 Uhr.
Von der Realität in die Fiktion…
Für das Projekt The Fates are talking wollte Bächler der Entwicklung der Stickereiindustrie erforschen, genauer, wie sich die Mechanisierung der Industrie auf die Arbeitsbedingungen der Sticker:innen und Stanzer:innen auswirkte. Als studierte Textil- und Modedesignerin, sie arbeitete mehrere Jahre für die St.Galler Textilfirma Jakob Schläpfer, interessierte sie sich für das Wechselspiel zwischen Handwerk und maschinell gefertigten Produkten.
Den Vergleich Mensch-Maschine führt sie mittels der gewählten Stickereimachart in ihrer Arbeit vor: statt mit den 168 Nadeln der verwendeten Maschine zu sticken, benutzte sie nur eine. Auch die Spannfäden zwischen den einzelnen Buchstaben liess sie bewusst stehen, um eine imperfekte, handwerksnähere Ästhetik zu schaffen.

Stéphanie Bächler war im Rahmen ihrer Residency im Herbst 2020 auch im Sitterwerk tätig. (Bild: pd/Ladina Bischof)
Die Ausarbeitung des Projekts erfolgte während der Residency als Gastkünstlerin im Kulturförderprogramm von TaDA, der Textile and Design Alliance. Das Programm unterstützt Künstler:innen in ihrer Praxis und fördert unter anderem die Vernetzung mit der Ostschweizer Textil- und Designindustrie.
Das tat Bächler: Sie traf sich mit Sticker:innen, führte Interviews und schrieb alles auf. Aus diesen Notizen entwickelte sie schlussendlich der frei erdachte Dialog der Moiren.
…und wieder zurück
Ein gestickter Satz auf dem Banner lautet: «And they are so functional, they never break! We need the Luddites to destroy them!» Mit «Luddites» sind Vertreter:innen des Luddismus gemeint, englische Textilarbeiter:innen, die gegen die drohende soziale Verelendung ankämpften. Sie waren gegen die Industrialisierung und Mechanisierung und wurden als reaktionär und technikfeindlich betrachtet. Unter anderem zerstörten sie fortschrittliche Maschinen, die Arbeitsplätze ersetzten oder besetzten Handels- und Transportwege. Die Bewegung wurde durch Repressionsmassnahmen, Deportationen und blutige Hinrichtungen zerschlagen.
Gewisse Garne in der Installation Bächlers stammen aus Rheintaler Stickereien. Nicht derart radikal wie die Ludditen, aber mit Brückenbesetzungen, wehrten sich auch da Arbeiter:innen gegen die Auswirkungen der Industrialisierung.
Stille Zeitzeugen
Viele Bauten in St.Gallen erinnern an die Blüte der Stickereizeit. Nach 1920 sind dagegen nur wenige gebaut worden. Der Bau an der Linsebühlstrasse, wo sich das Espace Nina Keel befindet, vom Architekten Moritz Hauser geplant, wurde von der Stadt subventioniert, die Annahmegründe waren hintergründig Arbeitsbeschaffung in der Krise.
Nina Keel, Kunsthistorikerin und Kuratorin im Espace Nina Keel, ist überzeugt: «Es existieren einige Bauten in St.Gallen, die nur darum realisiert wurden, um Arbeitsplätze zu schaffen.»
Die Kuratorin vom Espace Nina Keel weiss aber auch eine schönere Anekdote zu erzählen: «Der Jugendstilbau Oceanic an der St.Leonhardsstrasse 20 zeugt wie viele Bauten in St.Gallen von der Hochzeit der Textilindustrie. Das ehemalige Stickereigeschäftshaus, wo einst Stickereien veredelt worden waren, präsentiert an der Hausfassade die drei Schicksalsgöttinnen.» Keel und Bächler, die sich über TaDA kennengelernt haben, machten diese Entdeckung während der Ausstellungsplanung.
Gegen das von den Moiren geschriebene Schicksal kann sich der Mensch übrigens auflehnen – so entstehen tragische Held:innen.