Der Dank blieb bis heute aus
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«Unsere Eltern haben uns etwas mitgegeben, das Eliteschulen oder Kulturreisen nicht lehren. Nämlich, dass man die Wahl hat, unbefriedigende Umstände hinter sich zu lassen, um – etwa in einem anderen Land – etwas Besseres zu suchen und das Beste daraus zu machen. Eine Freiheit, die sie für sich erarbeitet haben. Aber auch für uns. Wir sollten sie uns nicht nehmen lassen. Und noch viel weniger anderen das Recht dazu absprechen.»
Das schreibt Larissa Alghisi Rubner, in der Schweiz geborene Italienerin der zweiten Generation, im Buch Grazie a voi. Der Dank gilt den Einwanderern der ersten Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz gekommen waren: «Heimweh hatten sie bestimmt», heisst es weiter im Text, «aber sie waren voller Hoffnung. Ihr Aufbruch bedeutete Unabhängigkeit» – zum Beispiel für die Frauen, die ein eigenes Einkommen hatten und «später den Spagat zwischen Beruf und Erziehung meisterten».
Die erste Generation kommt in die Jahre
An der Vernissage des Buchs Grazie a voi am Freitag im Raum für Literatur in der St.Galler Hauptpost wähnte man sich in Italien. Und man sah viele ergraute Köpfe – die erste Einwanderergeneration ist in die Jahre gekommen, höchste Zeit, ihre Erinnerungen zu sammeln. Das hatte zuerst die Ausstellung Ricordi e stima (Erinnerungen und Wertschätzung) geleistet, im Frühling im Historischen und Völkerkundemuseum gezeigt. Und das leistet jetzt das im Limmatverlag erschienene Buch. Es versammelt die Fotos aus der Ausstellung und ergänzt sie um kurze Einführungstexte und persönliche Zeugnisse.
Grazie a voi. Fotografien zur italienischen Migration in der Schweiz, hrsg von Marina Widmer, Giuliano Alghisi, Fausto Tisato und Rolando Ferrarese, Limmat Verlag Zürich 2016, Fr. 49.90.
Für Mitherausgeber und Gestalter Fausto Tisato ist das Buch eine Hommage an die Elterngeneration (auch an seine eigene). Giuliano Alghisi, Präsident des Vereins Ricordi e stima, und der Leiter des Italienischen Kulturzentrums Rolanda Ferrarese sprachen ihrerseits als Mitherausgeber ein grosses «Grazie» an alle Beteiligten aus. Und Marina Widmer vom Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte, auch sie als Herausgeberin am Buch beteiligt, betonte, wie langwierig und oft schmerzhaft der Prozess war, bis aus Fremden Einheimische geworden waren.
Als «lebendes Beispiel» dafür erinnerte die neugewählte St.Galler Stadträtin Maria Pappa an den Transport des «Monumente Migrante» im März, zur Eröffnung der Ausstellung, vom St.Galler Bahnhof durch die Innenstadt: eine anstrengende Aktion, die für sie symbolisch war für den langen Weg bis zur heutigen Integration der italienischen Einwanderer.
«Unseliger Überfremdungsdiskurs»
Die Geschichte der italienischen Società sei denn auch mehr als historisch interessant, sondern brisant für die heutige Flüchtlings- und Migrationspolitik, sagte Marina Widmer: Es dürfe für heutige Migrantinnen und Migranten nicht mehr so lange dauern, wie damals bei den italienischen «Gastarbeitern».
Ausführlich erinnerte der Historiker Max Lemmenmeier an die politischen Kämpfe rund um die damals so genannte «Italienerfrage». Da war das Saisonnierstatut, das mit Arbeitern, aber nicht mit Menschen rechnete und dank dem die Wirtschaft konjunkturelle Schwankungen auf dem Buckel der Einwanderer austragen konnte. Und da waren die diversen «Überfremdungsinitiativen» der Sechziger- und Siebzigerjahre, die eine Begrenzung der Ausländerzahl anstrebten. Die Einwanderer wurden, so Lemmenmeier, zu Sündenböcken und Wohlstands-Schmarotzern abgestempelt, man machte sie für die Zersiedlung und Umweltverschmutzung mitverantwortlich und sah die Identität der Schweiz bedroht.
Zwar wurden alle Initiativen abgelehnt (allerdings auch die spätere «Mitenand»-Initiative) – der «unselige Überfremdungs- und Identitätsdiskurs» sei aber bis heute in den Migrationsdebatten präsent.
Die offizielle Politik schweigt
Lemmenmeier zog eine zwiespältige Bilanz. Zum einen war die Leistung der Arbeiterinnen und Arbeiter aus Italien mit entscheidend für den Wohlstand hierzulande; ihnen wiederum bot die Arbeit in der Schweiz die Chance zum sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. Zum andern bildete sich für lange Zeit eine Art Parallelgesellschaft; erst die zweite und inzwischen dritte Generation sei ganz hier «angekommen». Und schliesslich kritisierte Lemmenmeier: «Ein offizieller Dank der Politik für die grosse Leistung der Migrantinnen und Migranten fehlt noch immer.» Diesen, ergänzte Fausto Tisato, spreche jetzt dafür das Buch aus: Grazie a voi.
Bild: Nach der Arbeit das Sonntagsvergnügen: Junge Italienerinnen und Italiener bei den Weihern, St.Gallen um 1950. (Bild: aus dem Buch Grazie a voi)