Verschneite Berge mit hunderten von Pistenkilometern im Winter, unzählige Velo- und Mountainbikestrecken sowie Wanderrouten im Sommer, malerische Dörfer und imposante Naturschauplätze wie der Nationalpark, die Rheinschlucht, die über 600 Seen oder die berühmte Bahnstrecke Albula/Bernina: In Graubünden vereint sich, was man «Postkartenschweiz» nennt. Der flächenmässig grösste Kanton der Schweiz ist auch die grösste Ferienregion mit einem riesigen touristischen Angebot.
Doch seit kurzem setzt man im Bündnerland neben dem alpinen Outdoor-Tourismus auf ein neues Feld: die Kultur. Im Frühling 2023 startete das Projekt Graubünden Cultura. Träger ist der gleichnamige Verein, dem wiederum das Institut für Kulturforschung Graubünden, die Tourismusorganisation Graubünden Ferien, die Geschäftsstelle Marke Graubünden und die Forschungsstelle Tourismus und Nachhaltige Entwicklung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wergenstein angehören.
Die Pilotphase des Projekts dauert vier Jahre, also bis Frühling 2027. So lange ist auch die Finanzierung gesichert. Dem Verein stehen maximal 3,2 Millionen Franken zur Verfügung. Die eine Hälfte beziehungsweise je einen Viertel übernehmen der Kanton und der Bund im Rahmen der Neuen Regionalpolitik (NRP). Die andere Hälfte muss der Verein selber auftreiben. Von der öffentlichen Hand kommt dabei nur so viel Geld, wie Dritte beisteuern.
Eine der führenden Kulturtourismusregionen der Alpen
«Unser Ziel ist es, Graubünden als eine der führenden Kulturtourismusregionen der Alpen zu positionieren», sagt Kaspar Howald. Der 49-Jährige, der zuvor zehn Jahre lang Direktor von Valposchiavo Turismo war und einst für die Kulturstiftung Pro Helvetia in Kairo und Alexandria arbeitete, ist Projektleiter von Graubünden Cultura. Doch was genau versteht man unter Kulturtourismus? Und wie lässt er sich von anderen Tourismusarten abgrenzen? Kulturtourismus sei ein weiter Begriff, eine Abgrenzung entsprechend schwierig, sagt Howald. Grundsätzlich sei jede Städtereise, sofern nicht allein das Partymachen im Zentrum stehe, immer auch eine Kulturreise, selbst wenn nicht das kulturelle Angebot das primäre Reisemotiv sei.
Ein Merkmal des Kulturtourismus sei, dass sich die Gäste stärker für den Ort interessierten und ihn auch aufgrund seiner Identität wählten, beispielsweise wegen der Sprache oder der Architektur – im Unterschied etwa zum (Winter-)Sporttourismus, bei dem man das Reiseziel meist aufgrund der Grösse des Skigebiets oder des Komforts der Sesselbahnen wähle. «Solche Gäste lassen sich eher auf einen Ort ein, bleiben eher länger und kommen auch eher wieder zurück. Dadurch entsteht eine Bindung, was aus touristischer Sicht wertvoll ist.» Dabei gehe es nicht bloss darum, möglichst viele Übernachtungen zu verzeichnen, sondern in allen Bereichen eine möglichst grosse Wertschöpfung zu erreichen.
«Der alpine Tourismus wird sich aufgrund der globalen Erwärmung stark verändern. Deshalb muss sich das touristische Angebot diversifizieren.»
Dass Graubünden auf die Kulturtourismuskarte setzt, hat gemäss Howald zwei Gründe. Zum einen sei es «eine Notwendigkeit». Denn der Klimawandel mit wärmeren und schneeärmeren Wintern macht auch vor dem Bündnerland nicht Halt. Viele Wintersportgebiete haben damit zu kämpfen. «Der alpine Tourismus wird sich aufgrund der globalen Erwärmung stark verändern. Die Schwierigkeiten des Wintersports sind offensichtlich und werden immer grösser.» Deshalb müsse sich das touristische Angebot diversifizieren.
Zum anderen biete Graubünden seit jeher kulturell sehr viel, nur schon mit den rund 150 Tälern, von denen jedes seine eigene Identität habe, den drei Sprachen und zwei Konfessionen. Die Kultur habe schon früher eine wichtige Rolle gespielt, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als Kulturschaffende wie Thomas Mann (Der Zauberberg) oder Ernst Ludwig Kirchner in Davos ihre Spuren hinterliessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei sie durch die Entwicklung des Wintersports und des Massentourismus etwas ins Hintertreffen geraten.
Kulturelle Spezifität ist zentral
Dennoch: Die kulturelle Vielfalt in Graubünden ist sehr gross und hat beispielsweise mit der Kulturinstitution Origen in Riom einen «grossen überregionalen Leuchtturm», wie Howald sagt. Diese Vielfalt will Graubünden Cultura nun durch kulturtouristische Angebote sichtbarer machen. Das bedeute nicht, neue Kulturangebote aus dem Boden zu stampfen. «Unsere Aufgabe ist auch nicht, bestehende Kultur finanziell zu fördern.» Vielmehr gehe es darum, auf ihr aufzubauen und sie allenfalls zu optimieren, sei es betreffend die Produktion der Angebote oder deren Kommunikation durch Graubünden Ferien, die nach wie vor sehr «outdooraktivitätslastig» sei. «Es braucht eine andere Sensibilität für das Thema Kultur als Pfeiler des touristischen Angebots. Daran arbeiten wir.»
Eine zentrale Aufgabe von Graubünden Cultura ist die Vernetzung der Akteure und eine Zusammenarbeit zwischen Kultur- und Tourismusorganisationen. Eine Herausforderung dabei sind die Grösse des Kantons und die grossen Distanzen zwischen den Orten und Regionen, eine andere ist das Konkurrenzdenken in der Kulturszene, da die meisten Institutionen aus den gleichen Fördertöpfen naschen. Howald ist jedoch überzeugt, dass Kooperation der Schlüssel zum Erfolg ist: «Es kommt allen zugute.» Und führe dazu, dass Kultur als Standortfaktor wahrgenommen werde.
Fehlende Infrastruktur erfordert Improvisation
Origen mit der Burg Riom als Zentrum und dem Weissen Turm in Mulegns dient auch als Beispiel für eine weitere Herausforderung, mit der die Kultur im Bündnerland zu kämpfen hat: der fehlenden Infrastruktur. «Wir haben kein Opernhaus, keine grosse Konzerthalle, keinen Theatersaal. Die Kulturveranstaltungen müssen sich deshalb an die lokalen Gegebenheiten anpassen.» So entstehen etwa Freilichtbühnen oder bestehende Strukturen wie Werkhallen werden (temporär oder langfristig) umgenutzt.
Mit anderen Worten: Es braucht viel Gestaltungswille, Kreativität und Improvisationstalent. «Das sehe ich als grosse Chance für Graubünden: Gerade dadurch, dass wir nicht über eine kulturelle Infrastruktur wie die Städte verfügen, müssen wir kreativer sein. Dadurch können wir kulturelle Erlebnisse schaffen, die man so nur hier erleben kann», sagt Howald. Diese Spezifität sei zentral. Weil im Bündnerland – abgesehen von Davos oder St.Moritz, die sehr international ausgerichtet sind –, die Hälfte der Tourist:innen aus der Schweiz komme, brauche es Angebote, die es in den urbanen Zentren nicht gebe. Den Louvre nachzubauen wie in Abu Dhabi, mache keinen Sinn.
Zahlen mit Vorsicht geniessen
In Graubünden liege noch viel kulturtouristisches Potenzial brach, ist Kaspar Howald überzeugt. Der Schweizer Tourismus-Verband schreibt jedoch auf seiner Website, 2023 habe der Tourismus in der Schweiz eine Wertschöpfung von 20,7 Milliarden Franken generiert. Davon entfielen nur gerade 285 Millionen oder zwei Prozent auf die Kultur. Über 80 Prozent machten die Beherbergung (32 %), der «Passagierverkehr» (24 %), die Verpflegung in Gaststätten und Hotels (17 %) und «tourismusverwandte Produkte» (13 %) aus. Welche Chance hat also die Kultur, ein touristischer Pfeiler zu werden und die wegschmelzenden Einnahmen aus dem alpinen Tourismus auch nur ansatzweise wettzumachen?
Allzu viel Relevanz will Howald diesen Zahlen nicht beimessen. Es sei eine Frage der Abgrenzung und der Erhebung. Am vergangenen Tourismustag von Graubünden Ferien sei eine Studie präsentiert worden, die die wichtigsten zehn Reisemotive für die Gäste in Graubünden aufgezeigt habe – die Kultur sei darin gar nicht vorgekommen. Wenn man irgendwo Ferien verbringe und dabei auch die kulturellen Angebote nutze, sei es fast unmöglich, das in die direkte oder indirekte Wertschöpfung einzurechnen. «Aber Kultur hilft mit Sicherheit, die Identität und die Positionierung einer Destination zu schärfen. Und eine der Hauptaufgaben der Tourismusorganisationen ist es, sich von den Mitbewerber:innen zu unterscheiden. Dafür ist Kultur ein sehr effizientes Werkzeug.»
Kulturelle Vielfalt als Mehrwert für St.Galler Tourismus
Während der Bergkanton Graubünden den Kulturtourismus also erst noch institutionalisieren muss, ist er in den nahen Voralpen schon wesentlich ausgeprägter. In St.Gallen hat der Kulturtourismus dank des Klosters, der Stiftsbibliothek und des textilen Erbes der Stadt selbstredend einen hohen Stellenwert, schon seit vielen Jahren. Auch beim für die Gallusstadt ebenfalls wichtigen Kongresstourismus sei die kulturelle Vielfalt ein Mehrwert, den man in die Waagschale werfen könne, sagt Rafael Enzler, Präsident von St.Gallen-Bodensee-Tourismus. Enzler sieht es ähnlich wie Howald: Bei Städtereisen sei das kulturelle Angebot oft ein Teil des Gesamterlebnisses, nicht der eigentliche Reisegrund. Dank der Stiftsbibliothek sei das in St. Gallen anders.

Dieser hohe Stellenwert zeigt sich auch darin, dass der Kultur- und Wissenstourismus eines von drei Geschäftsfeldern in der Tourismusstrategie 2027 von St.Gallen-Bodensee-Tourismus ist und in den Zielen explizit der Ausbau der entsprechenden Angebote festgehalten wird. Er zeigt sich aber auch in der personellen Zusammensetzung der Organisation: Sie hat im Frühling 2024 den Vorstand mit Ladina Thöny, Leiterin der IG Kultur Ost, vergrössert, damit Kulturanliegen stärker vertreten sind.
Die Vernetzung zwischen Kultur und Tourismus wird also auch hier vorangetrieben. 2024 führte St.Gallen-Bodensee-Tourismus mit Unterstützung der IG Kultur Ost erstmals das Kultur- und Tourismus-Camp durch. Es soll das Zusammenspiel der beiden Branchen weiter voranbringen und künftig jährlich stattfinden. Die nächste Austragung ist am 23. April. «Um miteinander zu verhandeln, muss man einander verstehen», sagt Enzler. «Dieser Brückenschlag ist wichtig, denn wir sitzen im selben Boot.» Deshalb sei auch die Abgrenzung zwischen Tourismus- und Kulturförderung, die beide durch die öffentliche Hand mitfinanziert werden, schwierig. Denn beide profitierten voneinander.
Gäste, Einheimische und Kulturschaffende in Resonanz
Auch im Toggenburg sei der Kulturtourismus sehr wichtig, sagt Max Nadig, der scheidende Präsident von Toggenburg Tourismus. Und er dürfte schon bald noch etwas wichtiger werden: Ende Mai wird das Klanghaus in Wildhaus eröffnet, ebenfalls ein Gebäude mit Leuchtturmcharakter. Die lokale Hotellerie erhofft sich viel davon.
Ohnehin passe die Klangwelt Toggenburg mit dem Klangweg, der Klangschmiede und dem Naturstimmenfestival hervorragend in die Region, weil sie sich an ihren Traditionen orientiere, sagt Nadig, der in der Steuerungsgruppe Klangcampus ist. Kulturtourismus funktioniere nur dann, wenn er auch von der lokalen Bevölkerung getragen werde. «Etwas Künstliches funktioniert nicht.» Das gelte auch fürs Toggenburg, das in dieser Hinsicht konservativ geprägt sei. «Die Bevölkerung steht zu ihren Wurzeln, die Leute sind diesbezüglich sehr feinfühlig.» Das zeigte sich 2017, als ein Flyer für das Naturstimmenfestival der Klangwelt, das einen Mann in Kleidern aus verschiedenen Kulturen zeigte, für viel Wirbel sorgte. «Wir reden deshalb von Resonanztourismus: Wir wollen, dass Gäste, Einheimische und Kulturschaffende in Resonanz sind, aufeinander Rücksicht nehmen.»
Brauchtum nicht touristisch ausschlachten
Silvesterchläuse, Bloch, Zauren, Trachten – auch im Ausserrhodischen ist Kultur ein elementarer Bestandteil des Tourismus, ja der «USP» (unique selling point), wie es neuökonomisch so schön heisst. «Das gelebte Brauchtum ist bei uns identitätsstiftend und der touristische Anziehungspunkt», sagt Kevin Signer, seit Oktober interimsweise Geschäftsführer von Appenzellerland Tourismus AR. Während die Globalisierung vieles austauschbar mache, zeigten Traditionen die Einzigartigkeiten von Menschen und Regionen auf. So etwas touristisch nutzen zu können, sei ein grosser Wert.

Appenzellerland Tourismus AR will seinen «USP» jedoch nicht ausschlachten. Statt auf schweizweite Vermarktung setzt man auf Gästeberatung und Produktentwicklung. Gerade die Verknüpfung von Tourismus und Brauchtum sei ein schmaler Grat, sagt Signer. «Auf der einen Seite stehen die Traditionen, bei denen die einheimische Bevölkerung unter sich ist und einen bestimmten Brauch pflegt, auf der anderen Seite sind die Tourist:innen, die ein Teil davon werden.» Es sei ein Spannungsfeld zwischen dem Respekt und einer angemessenen Distanz und der durch Social Media zunehmenden Selbstinszenierung. «Wir müssen schauen, dass das Brauchtum dadurch nicht zurückgedrängt wird. Wenn man eine Show daraus macht, ist es nicht mehr authentisch.» Information und Sensibilisierung seien deshalb wichtig, Nachhaltigkeit sei das Motto. «Wir wollen den sanften Tourismus fördern», sagt Signer. Heisst: Die Besucher:innen sollen möglichst lange bleiben und sich mit der Gegend auseinandersetzen.
Angst vor dem Ausverkauf
Zurück nach Graubünden. Dort macht man jetzt den nächsten Schritt auf dem Weg zum Ziel, sich als führende Kulturtourismusdestination der Alpen zu positionieren. Ende März ist das Programm «Spazi avert & Ufficinas – da la ponderaziun a l’acziun» gestartet. Dabei handelt es sich um ein partizipatives Format, bei dem sich Tourismus- und Kulturschaffende aus dem ganzen Kanton quartalsweise treffen, um sich auszutauschen und zu vernetzen, gemeinsame Ideen zu entwickeln und diese Projekte – lokale oder kantonsweite – in Arbeitsgruppen weiterzuverfolgen. Es geht auch um Fragen wie die Zusammenarbeit einerseits zwischen den Kulturinstitutionen untereinander und andererseits mit den lokalen und regionalen Tourismusbüros. So ähnlich habe man es im Bikebereich gemacht, was sehr gut funktioniert habe, sagt Kaspar Howald.
In der Bündner Kulturszene sei die Begeisterung für Graubünden Cultura allerdings noch nicht überall da. «Einige freuen sich, dass die Kultur mehr Gewicht bekommt und als Standortfaktor angesehen wird, andere haben Vorbehalte.» Sie befürchten einen Ausverkauf der Kultur und wollten sich nicht vom Tourismus, dem es bloss um Konsum gehe, vor den Karren spannen lassen. Howald betont, es sei wichtig, dass die Bünder Kultur authentisch bleibe. «Wir wollen versuchen, mit ihr die Wertschöpfung zu steigern. Wenn uns das gelingt, kommt das letztlich auch der Kultur zugute.»
Einen positiven Nebeneffekt hatte die gestiegene Wahrnehmung der Kultur als Standortfaktor in Graubünden bereits auf politischer Ebene: Der Grosse Rat hat Ende 2024 im Rahmen des Kulturförderungskonzepts Graubünden 2025–2028 eine Erhöhung der jährlichen Fördermittel von drei Millionen Franken um 600'000 Franken beschlossen – wenige Tage, nachdem die Davoser Stimmbevölkerung den Kredit für den Erweiterungsbau des Kirchnermuseums abgelehnt hatte. Ein starkes Zeichen in Zeiten, in denen bei der Kultur oft zuerst gekürzt wird, sobald gespart werden muss.
Nina Schweizer, 2001, ist gelernte Grafikerin und freischaffende Illustratorin aus St.Gallen. Für diesen Schwerpunkt hat sie den aktuellen Zustand sowie mögliche Zukunftsvisionen der Tourismusregionen illustrativ erkundet. Sie beschäftigt sich verstärkt mit Illustration und analogen Techniken. Besonders fasziniert sie die Verbindung zwischen kinderbuchhaften Gestaltungen und ernsteren Themen.