Der Bündner Tourismus entdeckt die Kultur

Angesichts des Klimawandels will Graubünden sein touristisches Angebot diversifizieren: Künftig soll die Kultur eine viel wichtigere Rolle spielen. Das Projekt Graubünden Cultura hat aber mit zahlreichen Herausforderungen zu kämpfen. 

Illustrationen: Nina Schweizer

Ver­schnei­te Ber­ge mit hun­der­ten von Pis­ten­ki­lo­me­tern im Win­ter, un­zäh­li­ge Ve­lo- und Moun­tain­bikestre­cken so­wie Wan­der­rou­ten im Som­mer, ma­le­ri­sche Dör­fer und im­po­san­te Na­tur­schau­plät­ze wie der Na­tio­nal­park, die Rhein­schlucht, die über 600 Seen oder die be­rühm­te Bahn­stre­cke Al­bu­la/Ber­ni­na: In Grau­bün­den ver­eint sich, was man «Post­kar­ten­schweiz» nennt. Der flä­chen­mäs­sig gröss­te Kan­ton der Schweiz ist auch die gröss­te Fe­ri­en­re­gi­on mit ei­nem rie­si­gen tou­ris­ti­schen An­ge­bot.

Doch seit kur­zem setzt man im Bünd­ner­land ne­ben dem al­pi­nen Out­door-Tou­ris­mus auf ein neu­es Feld: die Kul­tur. Im Früh­ling 2023 star­te­te das Pro­jekt Grau­bün­den Cul­tu­ra. Trä­ger ist der gleich­na­mi­ge Ver­ein, dem wie­der­um das In­sti­tut für Kul­tur­for­schung Grau­bün­den, die Tou­ris­mus­or­ga­ni­sa­ti­on Grau­bün­den Fe­ri­en, die Ge­schäfts­stel­le Mar­ke Grau­bün­den und die For­schungs­stel­le Tou­ris­mus und Nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung der Zür­cher Hoch­schu­le für An­ge­wand­te Wis­sen­schaf­ten (ZHAW) in Wer­gen­stein an­ge­hö­ren. 

Die Pi­lot­pha­se des Pro­jekts dau­ert vier Jah­re, al­so bis Früh­ling 2027. So lan­ge ist auch die Fi­nan­zie­rung ge­si­chert. Dem Ver­ein ste­hen ma­xi­mal 3,2 Mil­lio­nen Fran­ken zur Ver­fü­gung. Die ei­ne Hälf­te be­zie­hungs­wei­se je ei­nen Vier­tel über­neh­men der Kan­ton und der Bund im Rah­men der Neu­en Re­gio­nal­po­li­tik (NRP). Die an­de­re Hälf­te muss der Ver­ein sel­ber auf­trei­ben. Von der öf­fent­li­chen Hand kommt da­bei nur so viel Geld, wie Drit­te bei­steu­ern.

Ei­ne der füh­ren­den Kul­tur­tou­ris­mus­re­gio­nen der Al­pen

«Un­ser Ziel ist es, Grau­bün­den als ei­ne der füh­ren­den Kul­tur­tou­ris­mus­re­gio­nen der Al­pen zu po­si­tio­nie­ren», sagt Kas­par Ho­wald. Der 49-Jäh­ri­ge, der zu­vor zehn Jah­re lang Di­rek­tor von Val­po­s­chia­vo Tu­ris­mo war und einst für die Kul­tur­stif­tung Pro Hel­ve­tia in Kai­ro und Alex­an­dria ar­bei­te­te, ist Pro­jekt­lei­ter von Grau­bün­den Cul­tu­ra. Doch was ge­nau ver­steht man un­ter Kul­tur­tou­ris­mus? Und wie lässt er sich von an­de­ren Tou­ris­mus­ar­ten ab­gren­zen? Kul­tur­tou­ris­mus sei ein wei­ter Be­griff, ei­ne Ab­gren­zung ent­spre­chend schwie­rig, sagt Ho­wald. Grund­sätz­lich sei je­de Städ­te­rei­se, so­fern nicht al­lein das Par­ty­ma­chen im Zen­trum ste­he, im­mer auch ei­ne Kul­tur­rei­se, selbst wenn nicht das kul­tu­rel­le An­ge­bot das pri­mä­re Rei­se­mo­tiv sei.

Ein Merk­mal des Kul­tur­tou­ris­mus sei, dass sich die Gäs­te stär­ker für den Ort in­ter­es­sier­ten und ihn auch auf­grund sei­ner Iden­ti­tät wähl­ten, bei­spiels­wei­se we­gen der Spra­che oder der Ar­chi­tek­tur – im Un­ter­schied et­wa zum (Win­ter-)Sport­tou­ris­mus, bei dem man das Rei­se­ziel meist auf­grund der Grös­se des Ski­ge­biets oder des Kom­forts der Ses­sel­bah­nen wäh­le. «Sol­che Gäs­te las­sen sich eher auf ei­nen Ort ein, blei­ben eher län­ger und kom­men auch eher wie­der zu­rück. Da­durch ent­steht ei­ne Bin­dung, was aus tou­ris­ti­scher Sicht wert­voll ist.» Da­bei ge­he es nicht bloss dar­um, mög­lichst vie­le Über­nach­tun­gen zu ver­zeich­nen, son­dern in al­len Be­rei­chen ei­ne mög­lichst gros­se Wert­schöp­fung zu er­rei­chen.

«Der alpine Tourismus wird sich aufgrund der globalen Erwärmung stark verändern. Deshalb muss sich das touristische Angebot diversifizieren.»

Kaspar Howald, Projektleiter Graubünden Cultura

Dass Grau­bün­den auf die Kul­tur­tou­ris­mus­kar­te setzt, hat ge­mäss Ho­wald zwei Grün­de. Zum ei­nen sei es «ei­ne Not­wen­dig­keit». Denn der Kli­ma­wan­del mit wär­me­ren und schnee­är­me­ren Win­tern macht auch vor dem Bünd­ner­land nicht Halt. Vie­le Win­ter­sport­ge­bie­te ha­ben da­mit zu kämp­fen. «Der al­pi­ne Tou­ris­mus wird sich auf­grund der glo­ba­len Er­wär­mung stark ver­än­dern. Die Schwie­rig­kei­ten des Win­ter­sports sind of­fen­sicht­lich und wer­den im­mer grös­ser.» Des­halb müs­se sich das tou­ris­ti­sche An­ge­bot di­ver­si­fi­zie­ren.

Zum an­de­ren bie­te Grau­bün­den seit je­her kul­tu­rell sehr viel, nur schon mit den rund 150 Tä­lern, von de­nen je­des sei­ne ei­ge­ne Iden­ti­tät ha­be, den drei Spra­chen und zwei Kon­fes­sio­nen. Die Kul­tur ha­be schon frü­her ei­ne wich­ti­ge Rol­le ge­spielt, vor al­lem in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, als Kul­tur­schaf­fen­de wie Tho­mas Mann (Der Zau­ber­berg) oder Ernst Lud­wig Kirch­ner in Da­vos ih­re Spu­ren hin­ter­lies­sen. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg sei sie durch die Ent­wick­lung des Win­ter­sports und des Mas­sen­tou­ris­mus et­was ins Hin­ter­tref­fen ge­ra­ten.

Kul­tu­rel­le Spe­zi­fi­tät ist zen­tral

Den­noch: Die kul­tu­rel­le Viel­falt in Grau­bün­den ist sehr gross und hat bei­spiels­wei­se mit der Kul­tur­in­sti­tu­ti­on Ori­gen in Ri­om ei­nen «gros­sen über­re­gio­na­len Leucht­turm», wie Ho­wald sagt. Die­se Viel­falt will Grau­bün­den Cul­tu­ra nun durch kul­tur­tou­ris­ti­sche An­ge­bo­te sicht­ba­rer ma­chen. Das be­deu­te nicht, neue Kul­tur­ange­bo­te aus dem Bo­den zu stamp­fen. «Un­se­re Auf­ga­be ist auch nicht, be­stehen­de Kul­tur fi­nan­zi­ell zu för­dern.» Viel­mehr ge­he es dar­um, auf ihr auf­zu­bau­en und sie al­len­falls zu op­ti­mie­ren, sei es be­tref­fend die Pro­duk­ti­on der An­ge­bo­te oder de­ren Kom­mu­ni­ka­ti­on durch Grau­bün­den Fe­ri­en, die nach wie vor sehr «out­door­ak­ti­vi­täts­las­tig» sei. «Es braucht ei­ne an­de­re Sen­si­bi­li­tät für das The­ma Kul­tur als Pfei­ler des tou­ris­ti­schen An­ge­bots. Dar­an ar­bei­ten wir.»

Ei­ne zen­tra­le Auf­ga­be von Grau­bün­den Cul­tu­ra ist die Ver­net­zung der Ak­teu­re und ei­ne Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen Kul­tur- und Tou­ris­mus­or­ga­ni­sa­tio­nen. Ei­ne Her­aus­for­de­rung da­bei sind die Grös­se des Kan­tons und die gros­sen Di­stan­zen zwi­schen den Or­ten und Re­gio­nen, ei­ne an­de­re ist das Kon­kur­renz­den­ken in der Kul­tur­sze­ne, da die meis­ten In­sti­tu­tio­nen aus den glei­chen För­der­töp­fen na­schen. Ho­wald ist je­doch über­zeugt, dass Ko­ope­ra­ti­on der Schlüs­sel zum Er­folg ist: «Es kommt al­len zu­gu­te.» Und füh­re da­zu, dass Kul­tur als Stand­ort­fak­tor wahr­ge­nom­men wer­de.

Feh­len­de In­fra­struk­tur er­for­dert Im­pro­vi­sa­ti­on 

Ori­gen mit der Burg Ri­om als Zen­trum und dem Weis­sen Turm in Mu­leg­ns dient auch als Bei­spiel für ei­ne wei­te­re Her­aus­for­de­rung, mit der die Kul­tur im Bünd­ner­land zu kämp­fen hat: der feh­len­den In­fra­struk­tur. «Wir ha­ben kein Opern­haus, kei­ne gros­se Kon­zert­hal­le, kei­nen Thea­ter­saal. Die Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen müs­sen sich des­halb an die lo­ka­len Ge­ge­ben­hei­ten an­pas­sen.» So ent­ste­hen et­wa Frei­licht­büh­nen oder be­stehen­de Struk­tu­ren wie Werk­hal­len wer­den (tem­po­rär oder lang­fris­tig) um­ge­nutzt.

Mit an­de­ren Wor­ten: Es braucht viel Ge­stal­tungs­wil­le, Krea­ti­vi­tät und Im­pro­vi­sa­ti­ons­ta­lent. «Das se­he ich als gros­se Chan­ce für Grau­bün­den: Ge­ra­de da­durch, dass wir nicht über ei­ne kul­tu­rel­le In­fra­struk­tur wie die Städ­te ver­fü­gen, müs­sen wir krea­ti­ver sein. Da­durch kön­nen wir kul­tu­rel­le Er­leb­nis­se schaf­fen, die man so nur hier er­le­ben kann», sagt Ho­wald. Die­se Spe­zi­fi­tät sei zen­tral. Weil im Bünd­ner­land – ab­ge­se­hen von Da­vos oder St.Mo­ritz, die sehr in­ter­na­tio­nal aus­ge­rich­tet sind –, die Hälf­te der Tou­rist:in­nen aus der Schweiz kom­me, brau­che es An­ge­bo­te, die es in den ur­ba­nen Zen­tren nicht ge­be. Den Lou­vre nach­zu­bau­en wie in Abu Dha­bi, ma­che kei­nen Sinn. 

Zah­len mit Vor­sicht ge­nies­sen 

In Grau­bün­den lie­ge noch viel kul­tur­tou­ris­ti­sches Po­ten­zi­al brach, ist Kas­par Ho­wald über­zeugt. Der Schwei­zer Tou­ris­mus-Ver­band schreibt je­doch auf sei­ner Web­site, 2023 ha­be der Tou­ris­mus in der Schweiz ei­ne Wert­schöp­fung von 20,7 Mil­li­ar­den Fran­ken ge­ne­riert. Da­von ent­fie­len nur ge­ra­de 285 Mil­lio­nen oder zwei Pro­zent auf die Kul­tur. Über 80 Pro­zent mach­ten die Be­her­ber­gung (32 %), der «Pas­sa­gier­ver­kehr» (24 %), die Ver­pfle­gung in Gast­stät­ten und Ho­tels (17 %) und «tou­ris­mus­ver­wand­te Pro­duk­te» (13 %) aus. Wel­che Chan­ce hat al­so die Kul­tur, ein tou­ris­ti­scher Pfei­ler zu wer­den und die weg­schmel­zen­den Ein­nah­men aus dem al­pi­nen Tou­ris­mus auch nur an­satz­wei­se wett­zu­ma­chen?

All­zu viel Re­le­vanz will Ho­wald die­sen Zah­len nicht bei­mes­sen. Es sei ei­ne Fra­ge der Ab­gren­zung und der Er­he­bung. Am ver­gan­ge­nen Tou­ris­mus­tag von Grau­bün­den Fe­ri­en sei ei­ne Stu­die prä­sen­tiert wor­den, die die wich­tigs­ten zehn Rei­se­mo­ti­ve für die Gäs­te in Grau­bün­den auf­ge­zeigt ha­be – die Kul­tur sei dar­in gar nicht vor­ge­kom­men. Wenn man ir­gend­wo Fe­ri­en ver­brin­ge und da­bei auch die kul­tu­rel­len An­ge­bo­te nut­ze, sei es fast un­mög­lich, das in die di­rek­te oder in­di­rek­te Wert­schöp­fung ein­zu­rech­nen. «Aber Kul­tur hilft mit Si­cher­heit, die Iden­ti­tät und die Po­si­tio­nie­rung ei­ner De­sti­na­ti­on zu schär­fen. Und ei­ne der Haupt­auf­ga­ben der Tou­ris­mus­or­ga­ni­sa­tio­nen ist es, sich von den Mit­be­wer­ber:in­nen zu un­ter­schei­den. Da­für ist Kul­tur ein sehr ef­fi­zi­en­tes Werk­zeug.»

Kul­tu­rel­le Viel­falt als Mehr­wert für St.Gal­ler Tou­ris­mus 

Wäh­rend der Berg­kan­ton Grau­bün­den den Kul­tur­tou­ris­mus al­so erst noch in­sti­tu­tio­na­li­sie­ren muss, ist er in den na­hen Vor­al­pen schon we­sent­lich aus­ge­präg­ter. In St.Gal­len hat der Kul­tur­tou­ris­mus dank des Klos­ters, der Stifts­bi­blio­thek und des tex­ti­len Er­bes der Stadt selbst­re­dend ei­nen ho­hen Stel­len­wert, schon seit vie­len Jah­ren. Auch beim für die Gal­lus­stadt eben­falls wich­ti­gen Kon­gress­tou­ris­mus sei die kul­tu­rel­le Viel­falt ein Mehr­wert, den man in die Waag­scha­le wer­fen kön­ne, sagt Ra­fa­el Enz­ler, Prä­si­dent von St.Gal­len-Bo­den­see-Tou­ris­mus. Enz­ler sieht es ähn­lich wie Ho­wald: Bei Städ­te­rei­sen sei das kul­tu­rel­le An­ge­bot oft ein Teil des Ge­samt­erleb­nis­ses, nicht der ei­gent­li­che Rei­se­grund. Dank der Stifts­bi­blio­thek sei das in St. Gal­len an­ders.

Die­ser ho­he Stel­len­wert zeigt sich auch dar­in, dass der Kul­tur- und Wis­sens­tou­ris­mus ei­nes von drei Ge­schäfts­fel­dern in der Tou­ris­mus­stra­te­gie 2027 von St.Gal­len-Bo­den­see-Tou­ris­mus ist und in den Zie­len ex­pli­zit der Aus­bau der ent­spre­chen­den An­ge­bo­te fest­ge­hal­ten wird. Er zeigt sich aber auch in der per­so­nel­len Zu­sam­men­set­zung der Or­ga­ni­sa­ti­on: Sie hat im Früh­ling 2024 den Vor­stand mit La­di­na Thö­ny, Lei­te­rin der IG Kul­tur Ost, ver­grös­sert, da­mit Kul­tur­anlie­gen stär­ker ver­tre­ten sind.

Die Ver­net­zung zwi­schen Kul­tur und Tou­ris­mus wird al­so auch hier vor­an­ge­trie­ben. 2024 führ­te St.Gal­len-Bo­den­see-Tou­ris­mus mit Un­ter­stüt­zung der IG Kul­tur Ost erst­mals das Kul­tur- und Tou­ris­mus-Camp durch. Es soll das Zu­sam­men­spiel der bei­den Bran­chen wei­ter vor­an­brin­gen und künf­tig jähr­lich statt­fin­den. Die nächs­te Aus­tra­gung ist am 23. April. «Um mit­ein­an­der zu ver­han­deln, muss man ein­an­der ver­ste­hen», sagt Enz­ler. «Die­ser Brü­cken­schlag ist wich­tig, denn wir sit­zen im sel­ben Boot.» Des­halb sei auch die Ab­gren­zung zwi­schen Tou­ris­mus- und Kul­tur­för­de­rung, die bei­de durch die öf­fent­li­che Hand mit­fi­nan­ziert wer­den, schwie­rig. Denn bei­de pro­fi­tier­ten von­ein­an­der.

Gäs­te, Ein­hei­mi­sche und Kul­tur­schaf­fen­de in Re­so­nanz

Auch im Tog­gen­burg sei der Kul­tur­tou­ris­mus sehr wich­tig, sagt Max Na­dig, der schei­den­de Prä­si­dent von Tog­gen­burg Tou­ris­mus. Und er dürf­te schon bald noch et­was wich­ti­ger wer­den: En­de Mai wird das Klang­haus in Wild­haus er­öff­net, eben­falls ein Ge­bäu­de mit Leucht­turm­cha­rak­ter. Die lo­ka­le Ho­tel­le­rie er­hofft sich viel da­von. 

Oh­ne­hin pas­se die Klang­welt Tog­gen­burg mit dem Klang­weg, der Klang­schmie­de und dem Na­tur­stim­men­fes­ti­val her­vor­ra­gend in die Re­gi­on, weil sie sich an ih­ren Tra­di­tio­nen ori­en­tie­re, sagt Na­dig, der in der Steue­rungs­grup­pe Klang­cam­pus ist. Kul­tur­tou­ris­mus funk­tio­nie­re nur dann, wenn er auch von der lo­ka­len Be­völ­ke­rung ge­tra­gen wer­de. «Et­was Künst­li­ches funk­tio­niert nicht.» Das gel­te auch fürs Tog­gen­burg, das in die­ser Hin­sicht kon­ser­va­tiv ge­prägt sei. «Die Be­völ­ke­rung steht zu ih­ren Wur­zeln, die Leu­te sind dies­be­züg­lich sehr fein­füh­lig.» Das zeig­te sich 2017, als ein Fly­er für das Na­tur­stim­men­fes­ti­val der Klang­welt, das ei­nen Mann in Klei­dern aus ver­schie­de­nen Kul­tu­ren zeig­te, für viel Wir­bel sorg­te. «Wir re­den des­halb von Re­so­nanz­tou­ris­mus: Wir wol­len, dass Gäs­te, Ein­hei­mi­sche und Kul­tur­schaf­fen­de in Re­so­nanz sind, auf­ein­an­der Rück­sicht neh­men.»

Brauch­tum nicht tou­ris­tisch aus­schlach­ten 

Sil­ves­ter­ch­läu­se, Bloch, Zau­ren, Trach­ten – auch im Aus­ser­rho­di­schen ist Kul­tur ein ele­men­ta­rer Be­stand­teil des Tou­ris­mus, ja der «USP» (uni­que sel­ling point), wie es neu­öko­no­misch so schön heisst. «Das ge­leb­te Brauch­tum ist bei uns iden­ti­täts­stif­tend und der tou­ris­ti­sche An­zie­hungs­punkt», sagt Ke­vin Si­gner, seit Ok­to­ber in­te­rims­wei­se Ge­schäfts­füh­rer von Ap­pen­zel­ler­land Tou­ris­mus AR. Wäh­rend die Glo­ba­li­sie­rung vie­les aus­tausch­bar ma­che, zeig­ten Tra­di­tio­nen die Ein­zig­ar­tig­kei­ten von Men­schen und Re­gio­nen auf. So et­was tou­ris­tisch nut­zen zu kön­nen, sei ein gros­ser Wert.

Ap­pen­zel­ler­land Tou­ris­mus AR will sei­nen «USP» je­doch nicht aus­schlach­ten. Statt auf schweiz­wei­te Ver­mark­tung setzt man auf Gäs­te­be­ra­tung und Pro­dukt­ent­wick­lung. Ge­ra­de die Ver­knüp­fung von Tou­ris­mus und Brauch­tum sei ein schma­ler Grat, sagt Si­gner. «Auf der ei­nen Sei­te ste­hen die Tra­di­tio­nen, bei de­nen die ein­hei­mi­sche Be­völ­ke­rung un­ter sich ist und ei­nen be­stimm­ten Brauch pflegt, auf der an­de­ren Sei­te sind die Tou­rist:in­nen, die ein Teil da­von wer­den.» Es sei ein Span­nungs­feld zwi­schen dem Re­spekt und ei­ner an­ge­mes­se­nen Di­stanz und der durch So­cial Me­dia zu­neh­men­den Selbst­in­sze­nie­rung. «Wir müs­sen schau­en, dass das Brauch­tum da­durch nicht zu­rück­ge­drängt wird. Wenn man ei­ne Show dar­aus macht, ist es nicht mehr au­then­tisch.» In­for­ma­ti­on und Sen­si­bi­li­sie­rung sei­en des­halb wich­tig, Nach­hal­tig­keit sei das Mot­to. «Wir wol­len den sanf­ten Tou­ris­mus för­dern», sagt Si­gner. Heisst: Die Be­su­cher:in­nen sol­len mög­lichst lan­ge blei­ben und sich mit der Ge­gend aus­ein­an­der­set­zen. 

Angst vor dem Aus­ver­kauf

Zu­rück nach Grau­bün­den. Dort macht man jetzt den nächs­ten Schritt auf dem Weg zum Ziel, sich als füh­ren­de Kul­tur­tou­ris­mus­de­sti­na­ti­on der Al­pen zu po­si­tio­nie­ren. En­de März ist das Pro­gramm «Spa­zi avert & Uf­fi­ci­nas – da la pon­de­ra­zi­un a l’ac­zi­un» ge­star­tet. Da­bei han­delt es sich um ein par­ti­zi­pa­ti­ves For­mat, bei dem sich Tou­ris­mus- und Kul­tur­schaf­fen­de aus dem gan­zen Kan­ton quar­tals­wei­se tref­fen, um sich aus­zu­tau­schen und zu ver­net­zen, ge­mein­sa­me Ideen zu ent­wi­ckeln und die­se Pro­jek­te – lo­ka­le oder kan­tons­wei­te – in Ar­beits­grup­pen wei­ter­zu­ver­fol­gen. Es geht auch um Fra­gen wie die Zu­sam­men­ar­beit ei­ner­seits zwi­schen den Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen un­ter­ein­an­der und an­de­rer­seits mit den lo­ka­len und re­gio­na­len Tou­ris­mus­bü­ros. So ähn­lich ha­be man es im Bik­e­be­reich ge­macht, was sehr gut funk­tio­niert ha­be, sagt Kas­par Ho­wald. 

In der Bünd­ner Kul­tur­sze­ne sei die Be­geis­te­rung für Grau­bün­den Cul­tu­ra al­ler­dings noch nicht über­all da. «Ei­ni­ge freu­en sich, dass die Kul­tur mehr Ge­wicht be­kommt und als Stand­ort­fak­tor an­ge­se­hen wird, an­de­re ha­ben Vor­be­hal­te.» Sie be­fürch­ten ei­nen Aus­ver­kauf der Kul­tur und woll­ten sich nicht vom Tou­ris­mus, dem es bloss um Kon­sum ge­he, vor den Kar­ren span­nen las­sen. Ho­wald be­tont, es sei wich­tig, dass die Bün­der Kul­tur au­then­tisch blei­be. «Wir wol­len ver­su­chen, mit ihr die Wert­schöp­fung zu stei­gern. Wenn uns das ge­lingt, kommt das letzt­lich auch der Kul­tur zu­gu­te.»

Ei­nen po­si­ti­ven Ne­ben­ef­fekt hat­te die ge­stie­ge­ne Wahr­neh­mung der Kul­tur als Stand­ort­fak­tor in Grau­bün­den be­reits auf po­li­ti­scher Ebe­ne: Der Gros­se Rat hat En­de 2024 im Rah­men des Kul­tur­för­de­rungs­kon­zepts Grau­bün­den 2025–2028 ei­ne Er­hö­hung der jähr­li­chen För­der­mit­tel von drei Mil­lio­nen Fran­ken um 600'000 Fran­ken be­schlos­sen – we­ni­ge Ta­ge, nach­dem die Da­vo­ser Stimm­be­völ­ke­rung den Kre­dit für den Er­wei­te­rungs­bau des Kirch­ner­mu­se­ums ab­ge­lehnt hat­te. Ein star­kes Zei­chen in Zei­ten, in de­nen bei der Kul­tur oft zu­erst ge­kürzt wird, so­bald ge­spart wer­den muss. 


cul­tu­ra.grau­bün­den.ch 

 

Ni­na Schwei­zer, 2001, ist ge­lern­te Gra­fi­ke­rin und frei­schaf­fen­de Il­lus­tra­to­rin aus St.Gal­len. Für die­sen Schwer­punkt hat sie den ak­tu­el­len Zu­stand so­wie mög­li­che Zu­kunfts­vi­sio­nen der Tou­ris­mus­re­gio­nen il­lus­tra­tiv er­kun­det. Sie be­schäf­tigt sich ver­stärkt mit Il­lus­tra­ti­on und ana­lo­gen Tech­ni­ken. Be­son­ders fas­zi­niert sie die Ver­bin­dung zwi­schen kin­der­buch­haf­ten Ge­stal­tun­gen und erns­te­ren The­men.