«Den Stacheldraht werde ich nicht wegbringen»
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Saiten: Ist das WEF barrierefrei?
Christoph Keller: Ja, so wurde es mir gesagt, ich war aber noch nicht dort. Ursprünglich war ich für einen Auftritt vorgesehen, aber das wurde geändert, ich nehme an wegen der Ukraine, die alle Aktualität beansprucht. Jetzt bin ich zumindest als Gast dabei und soll dann im Januar 2023 meinen Auftritt nachholen. Umso besser, da kann ich mich erst einmal umschauen.
Wie kam es überhaupt dazu, dass du eingeladen wurdest?
Einen meiner Offenen Briefe habe ich an Klaus Schwab gerichtet. Die Antwort war die Einladung. Das WEF ist ja ein schon fast dürrenmatt’sches Beispiel von Exklusion, mit dem Stacheldraht um die Veranstaltung, mit der Armee, die die Wenigen drinnen vor dem Rest draussen schützt. Zu meiner Freude las ich aber auf der WEF-Website einiges über Inklusion und Barrierefreiheit. Darauf habe ich ihm geschrieben. Meine inzwischen 18 Offenen Briefe richten sich in der Regel an Leute, die schon etwas Gutes tun, aber dies noch besser machen könnten. Einem Vollprofi-Diskriminierer würde ich nicht schreiben, das bringt nichts.
Hast du im Brief ans WEF gefordert, dass der Stacheldraht verschwindet?
Den werde ich wohl nicht wegbringen. Und klar: Es ist ein ambivalentes Gefühl, dorthin zu gehen. Weil der Anlass so exklusiv ist. Und weil ich dort auf der anderen Seite des Stacheldrahts bin, den ich zugleich verabscheue. Aber ich bin für Dialog, für reden reden reden. Und mit der Stimme, die ich mittlerweile habe, ist es hoffentlich möglich, gehört zu werden und etwas aufzubauen, was mehr Gerechtigkeit schafft. Den Begriff «Inklusion» benutze ich dabei ungern, er hat schon fast etwas WEF’sches, denn ich will nicht in eine andere Welt «inkludiert» werden, sondern alle sollen in einer Welt leben können, in der es für sie stimmt.
Das Wort «Inklusion» vermittelt: Es gibt aussen und innen, richtig und falsch?
Ich würde eher sagen: mächtig und ohnmächtig. Inklusion klingt in meinen Ohren wie «Bittibätti – lasst mich auch bei euch mitmachen». Was mir dagegen vorschwebt, ist eine radikale Normalisierung in allen Bereichen. Das bedeutet: nicht länger eine nicht-behinderte Welt zum Massstab zu nehmen, die man dann ein bisschen anpasst, solange es nicht zu viel kostet.
Mit deinem bisher letzten Brief hast du den Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer aufgefordert, seine Stelle als Vertreter der Schweiz bei der Uno-Behindertenrechtskonvention freizugeben für eine Person mit einer Behinderung. Wäre nicht in deinem Sinn eben gerade «radikal normal», dass sich auch jemand ohne Behinderung für behinderte Menschen einsetzen kann?
Natürlich. Aber wir sind in einer Übergangszeit. Wir wären als behinderte Menschen gar nicht dazu in der Lage, uns allein für uns einzusetzen. Es braucht eine Durchmischung, und so weit sind wir in der Schweiz bei weitem noch nicht. Die Realität ist: Behinderte Menschen werden bevormundet. An jeder wichtigen Stelle sitzt garantiert ein Nicht-Behinderter, vom IV-Kader bis zur Politik. Die entscheiden über uns. Und auch sonst ist, wie etwa beim Thurgauer Nationalrat Christian Lohr, noch nicht garantiert, dass sie sich tatsächlich für Menschen mit Behinderung einsetzen.
Christian Lohr setzt sich zu wenig ein?
Ich höre zumindest zu wenig. Letztmals war das der Fall, als er eine Rampe bekommen hat, um im Nationalrat seine Reden halten zu können wie alle anderen. Seine Reaktion: Er hat sich riesig darüber gefreut. Das ist typisch, wie wir Menschen mit Behinderung gewohnheitsmässig reagieren, nämlich untertänig. Nicht zu viel verlangen und sich dann schön bedanken: Das ist uns in Fleisch und Blut. Ich bin selber auch so aufgewachsen. Dabei wäre es in einer idealen Welt selbstverständlich, dass eine solche Rampe am ersten Tag da ist.
Nochmal zum Brief an Markus Schefer. Du traust ihm, einem engagierten Juristen ohne akademischen Dünkel nicht zu, dass er solche Anti-Diskriminierungsanliegen einbringen oder durchsetzen kann?
Eine komplexe Frage. Zum einen ist die Schweiz von der Uno gerade gerügt worden für Fälle von Diskriminierung im Bereich Behinderung. Das ist vermutlich nicht Schefers Verschulden, aber es ist in seiner Amtszeit gewesen. Ich weiss nicht, was er hätte besser machen können, mutmasslich ist er eine gute Besetzung – aber in unserer nicht-idealen Welt muss es einfach jetzt mal ein Mensch mit Behinderung sein. Er hätte vier Jahre Zeit gehabt, jemanden aufzubauen.
Er hat reagiert auf den Brief?
Ja, sofort. Wir treffen uns jetzt zu einem Gespräch. Eine Offene Antwort hätte ich allerdings auch gern gehabt.
Christoph Keller, 1963 in St.Gallen geboren, schreibt auf Deutsch und Englisch. Zuletzt erschienen von ihm der Roman Der Boden unter den Füssen (2019), das Buch Jeder Krüppel ein Superheld: Splitter aus dem Leben in der Exklusion (2020) und Poetikvorlesungen unter dem Titel Solange die Löwen nicht schreiben lernen: Vom Lesenschreiben der Welt (2021). Keller lebt mit seiner Frau, der amerikanischen Lyrikerin Jan Heller Levi, in St.Gallen.
Wie sind bis jetzt die Reaktionen auf die Offenen Briefe?
Es gibt alles mögliche, von der Einladung ans WEF oder ins Wahlgremium am St.Galler Theater über salbungsvolle Antworten wie jene von Simonetta Sommaruga, die mich auf meinen allerersten Brief quasi weggelobt hat, bis zu Schweigen. Bundesrat Berset hatte ich dazu aufgefordert, die Invalidenversicherung umzubenennen. Darauf kam ein Brief voller Paragraphenreiterei von seinem Sekretariat. Fazit: zu teuer, zu kompliziert, unverhältnismässig… Die Fussballnati hat zwölf Bücher von mir bekommen, leider keine Antwort. Von den Architekten Herzog & de Meuron ebenfalls nicht, dabei war das schon fast ein Fanbrief. Insgesamt ist es hochinteressant, wie die Schweiz reagiert oder eben nicht. Immerhin: Ich bekomme persönlich viele unterstützende Reaktionen.
Susanne Wille von SRF hat auf deinen Offenen Brief an sie breit dargelegt, wie weit das Schweizer Fernsehen schon in Sachen Einbezug von behinderten Menschen und dem Thema Behinderung ist.
Ja – ist es aber nicht. Gemäss Statistik haben in der Schweiz rund 20 Prozent der Menschen eine Behinderung. Um Normalisierung zu erreichen, müssen diese Menschen erstens sichtbar gemacht werden – aber zweitens: eben nicht bloss im «Chrüppeli»-Beitrag. Der nächste Sprung ist, behinderte Menschen reden zu lassen über Dinge, die nichts mit Behinderung zu tun haben. Sieht man im Fernsehen eine Person im Rollstuhl, geht es garantiert um den Rollstuhl und wie schlimm das ist und wie toll sie es dennoch meistert. Das will ich durchbrechen.
Wir reden jetzt auch wieder über Rollstühle. Wir tappen in dieselbe Falle.
Dann reden wir nächstes Mal doch über meine wunderbaren Bücher. Ich selber habe Auftritte, bei denen es nicht um den Rollstuhl geht. Aber es braucht andere. So wie Cem Kirmizitoprak, der im Zürcher Wilhelm Tell von Milo Rau mitspielt. Das schafft Sichtbarkeit und hat Wirkung.
Reden wir also noch über dein Buch – auch wenn es ja auch ein Buch über Behinderung ist.
Every Cripple a Superhero kommt im englischen Original heraus. Ich hatte das Buch noch auf Englisch geschrieben, dann sind wir in der Schweiz gelandet, es wurde von Florian Vetsch und mir ins Deutsche übersetzt und erschien dann ja zuerst in Saiten, danach im Limmatverlag. Das hat schöne Kreise gezogen, und dann kam der Penguin-Deal zustande, was mich sehr freut. Anfang Juni fahre ich nach London und kann an der Grossveranstaltung «Penguin presents» das Buch vorstellen. Nach dem Hardcover kommt es dann auch als Taschenbuch heraus, dort ist der kleine Pinguin dann drauf – das freut mich am meisten. Am 15. September macht das St.Galler Literaturhaus in der Militärkantine ein Pinguin-Fest.
Dieser Beitrag erscheint auch im Juniheft von Saiten.
Am 10. Juni findet im Würth-Haus Rorschach eine Veranstaltung des Netzwerktreffens Kultur inklusive Kultur Ostschweiz statt.