, 22. März 2018
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Demenz und Topfpflanzen

Diesen Sonntag feiert Lika Nüsslis Buch Vergiss Dich Nicht am Wortlaut Premiere. Eine Graphic Novel zwischen Kindheit, Demenz und Pflegeheim – und den Fragen an die Familie, die unbeantwortet bleiben.

Die Mutter ist dement, die Gespräche mit ihr wurden immer schweigsamer, und so fing die Tochter eines Tages an zu zeichnen. Lika Nüsslis Vergiss Dich Nicht. (Bild: pd)

Ein riesiger Wollknäuel spannt sich von den Stricknadeln der Mutter zum Zeichenstift der Tochter. Geschichtengarn. So war es, erzählt die Tochter, damals in der Kindheit: Wenn sie nicht einschlafen konnte, kam die Mutter hoch ins Zimmer, schlüpfte unter die Decke und erzählte.

Heute erzählt sie nichts mehr. Die Mutter ist dement, die Gespräche mit ihr wurden immer schweigsamer, und so fing die Tochter eines Tages an zu zeichnen. Daraus ist jetzt ein Buch geworden: Vergiss dich nicht. Gefördert wurde es unter anderem durch das Comicstipendium der Schweizer Städte.

Lika Nüssli wickelt einleitend ihre Erinnerungen an die Kindheit auf: die Jugend im «Schäfli», das ihre Eltern betrieben, die Wirtshausgäste aus allen Schichten und Nationen, die Reisen mit der Mutter, auch das Unausgesprochene, die Fragen an die Familie, die bleiben. «Leider kannst du mir keine Antworten mehr geben.»

Lika Nüssli: Vergiss dich nicht, Vexer Verlag St.Gallen 2018, Fr. 38.–

Buchvernissage: 25. März, 14 Uhr, Kunstmuseum St.Gallen, im Rahmen des Festivals Wortlaut
wortlaut.ch

Das Erzählgarn nimmt zeichnerisch immer neue Formen an, es wird zum Ross, zum Berg, zum nächtlichen Panorama. Dann wechselt die Szenerie ins Pflegeheim und der Stil zum Comic. Man lernt Frau Nüssli und Frau Solenthaler kennen, Herrn Krause, der Topfpflanzen hasst, die radebrechende Frau Adolfi, Herrn Blöchliger, der über die Ausländer schimpft und dann anfängt, von seiner Kindheit als Verdingbub zu erzählen.

In der Anderswelt der Demenz wuchern Erinnerungen und Kopf-Urwälder und aberwitzige Dialoge. Wie bei Irmi und Mägi, den Zimmernachbarinnen. Mägi schnappt am Fernseher etwas von Europa auf, Irmi fragt nach: «Europa, da kenn i doch. Isch es e Gsellschaftsspieli oder öppis Aaschteckends?»

Lika Nüssli lässt aber auch die Pflegerinnen und Pfleger zu Wort kommen, den «Migrationskosmos» im Altersheim, wie sie es nennt. Sie kommen aus Thailand, aus Eritrea, aus der Türkei, sie erzählen ihre eigenen Geschichten, ihr Heimweh, ihre Trauer.

Sie sind Fremde wie die dementen Alten auch. In Lika Nüsslis Graphic Novel sind am Ende die Topfpflanzen das einzige, was bleibt und Bestand hat.

Dieser Text erschien im Märzheft von Saiten.

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