Dem Kuckuck ins Nest geschaut
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Allein schon der Umstand, dass Schweizer Anstaltsleitungen Fotoarbeiten zum Psychiatriealltag ermöglichten und sogar noch förderten, weist auf ein offenbar verbreitetes Unbehagen in der Psychiatrie gegenüber den eigenen Institutionen hin.
Man befand sich in der Epoche, in der in Italien der Ruf nach Öffnung aller geschlossenen Anstalten und ihre Umwandlung in therapeutische Gemeinschaften laut wurde; in Frankreich verfasste der Psychiater Felix Guattari seine antpsychiatrischen Schriften, und in Hollywood erhielt der psychiatriekritische Spielfilm Einer flog übers Kuckucksnest von Milos Forman mit Jack Nicholson in der Hauptrolle fünf Oscars.
Die 28 Toten vom Burghölzli
1970 erteilte die Leitung der Zürcher Klinik Burghölzli dem Künstler und Psychiatriepfleger Willi Keller den Auftrag, für eine interne Ausstellung den Klinikalltag zu fotografieren. Da ereignete sich am 1. März 1971 im Burghölzli die schlimmste Brandkatastrophe, die jemals die Schweiz heimsuchte.
Einige Schweizer Medien haben Anfang März dieses Jahres anlässlich des 50-jährigen Gedenkens mit Augenzeugenberichten an das Ereignis erinnert. In der geriatrischen Abteilung erstickten 28 Patienten im Rauch.
Ein Heizstrahler in der Nähe eines Papierkorbes hatte womöglich den Brand ausgelöst. Die genaue Brandursache konnte nicht festgestellt werden, hiess es später von offizieller Seite. Für die reformbedürftige Schweizer Psychiatrie musste dieses Ereignis ein Weckruf gewesen sein.
Viele der Opfer waren auf den Bildern Willi Kellers zu sehen. Aus Pietätsgründen kam die Ausstellung damals nicht zustande. Die Fotografien verschwanden für lange Zeit im Archiv Willi Kellers.
Erst vor wenigen Jahren beförderte er den fotografischen Schatz wieder ans Licht. Es entstand das Buch Eingeschlossen mit dem Untertitel «Alltag und Aufbruch in der psychiatrischen Klinik Burghölzli zur Zeit der Brandkatastrophe von 1971» (Chronos-Verlag, 2017). Jetzt zeigt das St.Galler Lagerhaus Kellers Bilder.
Von Mitgefühl geprägt
Kellers Schwarzweissfotografien stehen in der Tradition der sozialkritischen Dokumentarfotografie. Die Bildsprache ist, fern von Voyeurismus, von Mitgefühl geprägt. Sein Blick legt die Ambivalenz offen, in der sich manche Patienten befanden. Obwohl sie unfreiwillig eingeschlossen waren, machten sie ein Schutzbedürfnis geltend, was angesichts der kommenden Brandkatastrophe doppelt tragisch anmutet.
Dem Fotografen und Psychiatriepfleger gelangen aus seiner Vertrauensposition heraus Aufnahmen aus dem Paralleluniversum seelisch kranker Männer in einer Direktheit, die so noch nie zu sehen war.
Mit kenntnisreichen Begleittexten versehen zeigen die Bilder: verlorene Gestalten im Spazierhof mit dem hohen Zaun, einen ausgemergelten Körper beim Bad, sedierte Patienten in ihren Betten im Schlafsaal, einen Mann mit Kieferbandage im zerschlissenen Korbsessel, eine Gruppe im Freien beim Müllverbrennen.
Der innere Impuls
Roland Schneider besass für seine fotografische Annäherung an den Psychiatriealltag einen völlig anderen Zugang. Er war selbst Patient. Eine persönliche Krise verlangte 1987 einen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Solothurn. Zur Förderung des Heilungsprozesses liessen ihn die Ärzte uneingeschränkt in der Klinik fotografieren. Der kreative Prozess sollte Schneider helfen, zu sich selbst zu finden. Der professionelle Fotograf funktionierte sein Zimmer zum Fotoatelier um und schuf in der Folge einen hochkarätigen Werkzyklus.
Auch er fotografierte ausschliesslich in schwarz-weiss. Schneiders Bilder sind vom Hochschullehrgang für Industriefotografie geprägt. Als Gestaltungselemente dienen in diesem Genre radikale Ausschnitte, abstrakte Formen und grafische Strukturen.
In der Klinik kommt eine neue Dimension dazu. Roland Schneider findet zu einer ganz besonderen Bildsprache, die Ernst Zoss, der Chefarzt der kantonalen psychiatrischen Klinik Solothurn, wie folgt definiert: «Jedes Bild löst im Inneren einen Impuls, eine Empfindung, ein Gefühl aus, das sich dem Intellekt entzieht. Mit der vertrauten analytischen und zerlegenden Betrachtungsweise sind diese Bilder nicht erfassbar; sie wirken als Ganzheit als Einheit.»
In einer speziell für die Ausstellung vergrösserten Aufnahme verdeckt ein junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren mit den Händen das Gesicht (siehe Titelbild). Zwischen den aufgefächerten Fingern blitzen die Augen. Angst und Neugierde drückt das Porträt aus, aber auch Vertrauen in den Fotografen ist zu spüren.
Auf einer Schiefertafel sind innerhalb einer grabsteinähnlichen Kreidelinie die Tage des Jahres 1987 als Striche markiert. Eine Reihe Lavabos und Handtüchlein am Haken rufen nach Ordnung im Chaos. Die zerbrochene und mit Karton geflickte Standuhr steht als Metapher für die in der Klinik verbrachte Zeit.
Schneiders Klinikaufnahmen zeigen nicht mehr eine reine Männergesellschaft. Unter anderem fotografierte er auch eine Mitpatientin im Gegenlicht mit aufgesetzter Dreikönigskrone.
In der Solothurner Klinik herrschte ein offener Geist. Nach der Entlassung aus der Klinik konnte Roland Schneider eine Ausstellung seiner Bilder am Ort ihrer Entstehung unter dem Titel Zwischenzeit oder der Weg ins Freie einrichten. Auf einem sieben Meter langen Tisch lagen 120 in Klarsichtfolie verpackte Bilder zum darin Wühlen. Im Museum im Lagerhaus ist dieser Wühltisch in einer Vitrine nachgestellt.
Durch die Linse: bis 11. Juli 2021, Museum im Lagerhaus St.Gallen
Das Living Museum
Erweitert werden die Fotobeiträge durch künstlerische Arbeiten aus dem Living Museum Wil. Als Errungenschaft der Psychiatriereform-Bewegung entstand 1983 in New York das Konzept des Living Museum.
Seit 20 Jahren besteht auch in Wil ein solches Atelier mit Ausstellungsraum, in dem psychisch erkrankte Menschen schöpferisch tätig sein können. Während der Dauer der Ausstellung wird das Museum im Lagerhaus temporäre Dependance der Wiler Institution.