, 6. Mai 2020
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«Das Virus hat eine Stopptaste gedrückt»

Mark Riklin, Schweizer Landesvertreter des «Vereins zur Verzögerung der Zeit», über die Chancen der Coronakrise und was die Kinder daraus machen.

Saiten: Die «Verzögerung der Zeit» oder «Not-to-do-Listen»: Das sind seit Jahren wichtige Themen für dich. Passiert das alles jetzt gerade mit Corona?

Mark Riklin: Vorausschicken will ich, dass ich aus einer privilegierten Sicht rede, etwa was meine Arbeit oder das Wohnen betrifft. Ich erlebe Corona möglicherweise positiver als andere, würde aber nie sagen wollen: Die andern machen etwas falsch. Eigentlich müsste man jene fragen, die in einer weniger bevorzugten Situation sind.

Wie erlebst du Corona konkret?

In meiner selbständigen Tätigkeit fallen Aufträge weg; zu zwei Dritteln bin ich aber in der Bildung und damit krisensicher angestellt. Ich gewinne Zeit ohne existentielle Bedrohung. Ein zweites Privileg ist unsere Wohnsituation: Wir haben Natur um uns herum und ein gutes Netz als Familie und Hausgemeinschaft. Wer als alleinerziehende Mutter Homeoffice und Homeschooling zusammenbringen muss, hat Stress. Wir erleben dagegen die Sonnenseite, auch das Lustvolle: Im einen Zimmer ist gerade Angewandte Soziologie dran, im andern Englischtraining, im dritten irgendein Chat, ein Nachbarsbub lernt bei uns… Unsere Kinder erleben diese Zeit vorwiegend positiv. Sie gewinnen Zeit.

Mark Riklin, 1965, ist Vater, Dozent und Alltagsbeobachter. Er lebt in Speicher. (Bild: Tine Edel)

Corona hat offenbar geschafft, was wir selber sonst nicht hinkriegen?

Es ist schon erstaunlich, was das Virus alles kann. Entschleunigung gilt allerdings nicht für alle. Die grösste Gruppe ist vermutlich die, die mit Corona im Gegenteil mehr denn je unter Druck ist – Angestellte in systemrelevanten Berufen, Alleinerziehende etc. Die zweitgrösste Gruppe erfährt Zwangsentschleunigung, aber empfindet dies nicht als Geschenk, sondern als Entzug von Freiheitsrechten. Und die dritte Gruppe, vermutlich die kleinste, sind jene, die in der Krise eine Chance entdecken, die sie gewissermassen überlistet hat. Meine Hoffnung ist, dass bei mir und auch anderswo nach Corona nicht alles wieder genauso hochgefahren wird, wie es vorher war.

Vielleicht macht ja doch ein grösserer Teil der Gesellschaft und nicht nur eine Minderheit einen solchen Prozess durch.

Vielleicht. Es wird zur Zeit 30 Prozent mehr Gemüse verkauft – vielleicht bleibt das so, wenn man mal auf den Geschmack gekommen ist. Ich hoffe, und das ist auch mein Plädoyer, dass nach dem ersten Schock neue Anfänge entstehen können. Das Schwierigste sind immer die Anfänge. Unser Gehirn ist ein denkfaules Organ. Der jetzige Ausnahmezustand könnte die Lust wecken, das Flussbett der Alltagsroutine zu verlassen. Das hat der Philosoph Richard David Precht treffend gesagt: Gerade ist das Fenster sperrangelweit offen, um in Alternativen zu denken. Der Alternativsinn wird geschärft.

Dafür haben wir das Virus gebraucht? Warum geht das nicht von selber?

Das gehört vielleicht zur Natur des Menschen. Im normalen Alltagsstrom schafft man das nicht. Das Leben ist zu voll, man macht zu viel, man besitzt zu viel… Jetzt ist eine Stopptaste gedrückt worden. Das bietet Gelegenheit, anzuhalten und zu schauen, ob man auf dem richtigen Weg ist, individuell und gesellschaftlich.

Gerade wird ja lautstark dagegen protestiert, dass die Läden so lange geschlossen bleiben. Zu befürchten ist: Kaum gehen sie wieder auf, wird wieder konsumiert wie eh und je.

Ja, es könnte ein Rebound-Effekt eintreten. Drum: Je länger ich die Chance habe, neue Anfänge zu installieren, desto eher werden sie überleben. Wenn die Phase zu kurz ist, verpufft der Effekt wohl. Und Konsum kann ja auch eine Ablenkung sein, eine Flucht vor der grossen Leere, ausserhalb oder in mir selber. Jetzt sind wir zurückgeworfen auf uns selber. Wenn wir das aushalten, könnten wir die Leidenschaften in uns entdecken.

Zum Beispiel?

Ich beobachte bei Kindern, wieviel kreative Energie das Mehr an Zeit freisetzt. Sie spielen Theater, sie wollen die Kirche im Modell nachbauen, Hüttenbauen in der Wohnung oder Räuber & Poli ist wieder hoch aktuell. Das ist erstmal eine Freude. Und dann auch eine Frage. Wir haben eine gute Schule im Dorf und trotzdem: Werden da nicht kindliche Bedürfnisse und Ressourcen verschüttet? Kindheit wird immer kürzer – man müsste sie wieder verlangsamen. Wenn Kinder Langeweile aushalten müssen, dann entstehen Ideen. Aktuell liest man viel über die Rückeroberung der Natur. Ich stelle fest, dass es mit Corona auch eine Rückeroberung der Kindheit gibt, dass plötzlich Zeit und Raum vorhanden sind für eigene Pläne. Einen Plan für den Tag zu schmieden: Das ist eine wichtige Kompetenz gerade für eine Gesellschaft, in der es einmal weniger Arbeit geben könnte.

Uns Erwachsenen fehlt diese «lange Weile» noch viel mehr als den Kindern.

Das ist auch ein Versäumnis der konventionellen Bildung. Drum ist das Prinzip der eigenverlangten Leistung so wichtig. Eigene Projekte zu lancieren macht Spass. Und es müssen nicht die ganz grossen Projekte sein. Schon kleine Selbstversuche können einiges verändern.

Über das Individuelle hinaus gibt es die gesellschaftlichen Prognosen, darunter auch sehr pessimistische. Deine Perspektive ist trotzdem optimistisch?

Ich glaube an die Chancen. Man muss sie aber auch öffentlich formulieren, zu Zukunftsoptimismus anstiften. Noch einmal Richard David Precht: Er sagt, es falle nie so einfach, etwas zu ändern, wie in einer Krise. Und in dem Moment, wo die Krise bewältigt ist, geht das Fenster wieder zu. Deshalb müssen wir die kleinen und die grossen Veränderungen jetzt einleiten.

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