Das vierte G: Gemeinsam

Das Publikum kam, die Wiedersehensfreude war spürbar: Am Samstag herrschte beim St.Galler Neustart-Festival von Mittag bis Mitternacht Kulturbetrieb fast wie vor der Pandemie. Problemlos funktionierte die Zertifikatspflicht.
Von  Peter Surber
Neustart-Auftakt in der Lokremise. (Bilder: Hannes Thalmann)

Der Andrang ist schon morgens um 10 bei der Eröffnung in der Lokremise gross. Und Ann Katrin Cooper begrüsst drinnen im Saal sichtlich erleichtert das Publikum, «das wir schon viel zu lange nicht mehr gesehen haben». Kultur sei als sinn- und gemeinschaftsstiftendes Erlebnis noch selten so wichtig gewesen wie jetzt, nach anderthalb Jahren Pandemie, sagt die Präsidentin der IG Kultur Ost.

«Gemeinsam»: Das ist das Wort, das immer wieder fällt in den Kurzansprachen von Cooper, von Karl Schimke und Barbara Affolter, dem Trio, das das Neustart-Festival initiiert und durchgezogen hat. Es brauchte dazu die kollektiven Kräfte von IG Kultur Ost, von Schimkes Projekt «Weniger Abfall, mehr Kultur» und der Museumsnacht. Und es brauchte einen Stadtrat, der den Betrag aus der Gutscheinaktion um ein Mehrfaches aufstockte, zusammen mit Privaten und Stiftungen.

Gemeinsam: Seifenblasenkunst im Museumsquartier.

Auch Stadtpräsidentin Maria Pappa beschwört an der Eröffnung das gemeinsame «Anpacken» in einer Krise, die allerdings noch nicht ausgestanden sei – aber der «Lebenspuls» schlage immerhin wieder weniger langsam als damals im Lockdown. Diesen «Puls» versinnbildlichen zum Auftakt dann die vier Tänzer:innen des Panorama Dance Theater in einer hoch energetischen Performance, begleitet vom Marimbaphon-Duo 8Mallets und animierter Grafik von Joel Roth.

Anschliessend geht es 14 Stunden lang kreuz und quer durch 45 Institutionen, Ausstellungs- und Konzertlokale zwischen Sitterwerk im Westen, Naturmuseum im Osten und dem «magischen Dreieck» Lokremise-Lagerhaus-Museumsquartier als Zentrum.

Wenigstens kulturell ein Hotspot

Zu entdecken waren zum Beispiel die drei Filme, die das Museum im Lagerhaus während des Lockdowns geschaffen hat: Mirjam Kradolfer und Ahmad al Rayyan erklären darin gewitzt und kundig, was es mit Art brut, Naiver Kunst und Outsider Art auf sich hat und was im Lagerhaus zu entdecken ist.

Das Megliodia-Ensemble im Kirchhoferhaus.

Zu geniessen waren zum Beispiel die barocken Tafelfreuden, die Megliodia im Festsaal des Kirchhoferhauses unter dem Titel «Wie Fürsten festen» auftischten: umwerfend musiziert von Annina Stahlberger, Yuko Ishikawa, Marie-Louise Dähler und Gerhard Oetiker und saftig serviert von Sprecher Mathias Albold.

Im Barock leisteten sich die «durchlauchtigsten» Herrschaften ihren ganzen Prunk auf dem Buckel und unter Ausschluss des Volks – das republikanische Neustart-Festival heute war zwar etwas bescheidener aufgegleist, dafür zugänglich für alle Stände und Portemonnaies. Und mit fairen Honoraren für die Mitwirkenden.

Tabea Buser als Julia mit Balkon-Attrappe.

Zu schnuppern war zum Beispiel an den ersten zwei Schauspielproduktionen des Theaters, in Proben zu Hotspotost und Julia und Romeo. Letztere, mit Premiere am 25. September, will dem Shakespeare-Original feministisch Paroli bieten: Herstory statt History, mit einer kämpferischen Tabea Buser in der Titelrolle.

Bereits diesen Mittwoch ist Uraufführungspremiere von Hotspotost. Autorin Brigitte Schmid-Gugler hält der Stadt darin einen satirischen Spiegel vor und versucht zu ergründen, warum es St.Gallen nie zur erträumten Grösse und Geltung gebracht hat. Im Stück gehen alle Anstrengungen schief. Am Neustart-Festival dagegen ist es gelungen, wenigstens für einen Tag kulturell auf der Höhe zu sein und zu zeigen, wie Institutionen und freie Kulturschaffende die Stadt zum Hotspot machen können – wenn sie sich zusammentun.

GGG: geht

Zu erahnen war am Festival schliesslich auch, wie es mit der Kultur im 3G-Zeitalter funktioniert. Fazit: Es geht. Zwar habe es vereinzelte Diskussionen zur Zertifikatspflicht gegeben, die hier bereits Geltung hatte; diese konnten aber ruhig geführt werden, sagt Barbara Affolter im Rückblick. «Grundsätzlich war die grosse Mehrheit einfach glücklich und dankbar.»

Lord Kesseli nachts in der Kunstgiesserei.

Zu erleben waren fast zweihundert kulturelle Ereignisse, und zum Finale zu später Stunde waren gleich mehrere Performances im Kunstmuseum oder im Sitterwerk angekündigt – glücklich, wer dannzumal noch Kräfte mobilisieren konnte. Im Ohr bleibt aber auch der morgendliche Appell ans Publikum von Ann-Katrin Cooper: «Bitte kommt auch nach dem Neustart weiter ins Kino, ins Theater, ins Konzert – und verbindet es gleich mit einem Besuch Eures Lieblingsgastronomen.»

Tüchel zünden zum Neustart im Flow.