Das Vermächtnis eines toten Flüchtlingskinds

«Call me Punk, Baby, if that makes you happy.» So hiess es am dritten Spielabend im Schlussrefrain. Ob es am Sonntag wieder so heissen wird, sei dahingestellt. Denn das Stück, viermal unter demselben Übertitel aufgeführt, entfaltet sich über vier Abende. Wie auch immer – es besteht keinerlei Anlass, irgendwen Punk zu nennen. Eine Verbindung zur Punk-Subkultur lässt sich höchstens grosszügig in die Aufführung hineininterpretieren. (Ein Schelm, wer die Qualität des einen oder anderen musikalischen Beitrags als Parallele zu manchmal eher rudimentär musizierenden Punkbands sieht. Raoul Nagels vielfältiges Musikkonzept ist aber durchaus zu loben!)
Und mit der wörtlichen Übersetzung – Nichtsnutz oder Taugenichts – kokettieren die Mitglieder der multinationalen Tanz-, Theater- und Musikgruppe zwar. Eigentlich führen sie mit ihrem Stück aber jegliche Assoziation mit dem Begriff ad absurdum. Denn allein die Existenz der Auftretenden trägt massgeblich dazu bei, mutiges, spannendes und zum Denken anregendes Theater auf die Bühne zu bringen. Die Künstler sollen jede und jeder individuell die Leitfrage beantworten: Wer bin ich?
Persönliche Manifeste
Bekanntlich schreibt (nebst dem Verfasser dieses Artikels) das Leben die besten Geschichten. Und Geschichten aus den Leben der Mitglieder der Rotes Velo Tanzkompanie stehen im Zentrum von Ich bin Punk? Sie nennen diese Geschichten, die in den Vorführungen zentral sind und die in Video-Beiträgen auf Leinwand sowie schauspielerisch und tänzerisch umgesetzt werden, ihre Manifeste.
Die Manifeste aller Auftretenden werden im Verlauf der vier Abende präsentiert. Sie sind massgeblich für die Stimmung verantwortlich, die in der Grabenhalle aufkommt. Letztes Wochenende lautete der Untertitel des Abends Scars. Die Narben standen unter anderem für verbranntes Gewebe, die Folgen einer versuchten Tötung und ein verstorbenes Kind. Es sei der düsterste der vier Abende, hiess es. Eine Düsternis, die dem Publikum wohl bekam.
«Darf ich das sagen?»
«Findest du, 18 Jahre Gefängnis sind eine angemessene Strafe für den Ägypter, der versucht hat, dich umzubringen?», fragt die Off-Stimme den englischen Tänzer Jack Widdowson im Video auf der Leinwand. Jack denkt nach, und Jack muss schliesslich zugeben, dass er die Frage nicht beantworten kann. «Kann man das Leid, das mir und besonders meiner Familie verursacht wurde, in Jahre ummünzen, welche der Täter absitzen soll? Ich weiss es nicht.»
Das Publikum erfährt auch dies: Der Täter versucht alles, um eine Verurteilung hinauszuschieben. Offenbar fürchtet er sich vor der Auslieferung hinter ägyptische schwedische Gardinen. Wahrscheinlich sei es angenehmer, in England eine Strafe abzusitzen als in Ägypten. «Ich weiss nicht, ob ich das sagen darf», sagt Jack.
Darf und soll er. Genau in solchen Momenten wird dieses Projekt so interessant: Es führt uns die Verknüpfung von Individuen mit einer globalisierten, problematischen Welt vor Augen und zwingt uns nachzudenken.
Die traurige Clownin
Ebenso die Clownin, die von ihrem Auftritt im Spital erzählt, als gerade ein Kind auf der Abteilung stirbt. «Ich weiss nicht, wie ich das den Eltern erklären soll», habe die Krankenschwester gesagt. Denn die Eltern sind Eritreer, die kein Deutsch und fast kein Englisch verstehen. Die Clownin sagt: «Ich schäme mich dafür, dass ich gestern noch dachte, ich hätte Probleme.» Sie will ihr Leben gelassener leben.
Ein totes Flüchtlingskind also als Samen, aus dem eine neue Lebensweisheit keimt, ein eritreisches Flüchtlingskind, gekommen um zu sterben und uns Schweizern zu neuer Gelassenheit zu verhelfen – darf man das sagen oder denken? Die himmeltraurige Geschichte in Kombination mit der Clown-Ausrüstung wirkt genial beklemmend.
Multikulturelle Relevanz
Ich bin Punk? ist ein Feuerwerk aus Tanz, Theater, Text und Musikstilen, das auf verschiedenen Bühnen und über verschiedene Präsentationsmedien dargeboten wird. Unterhaltendes und Gedankenprovokation tanzen Hand in Hand mal leichfüssig, mal trampelnd über die Bühne. Das Stück in vier abendfüllenden Akten fesselt und ist umso relevanter, weil es von einer multikulturellen Gruppe aufgeführt wird.
Letzten Sonntag waren Exequiel Barreras, Emilio Diaz Abregu und Hella Immler auf der Bühne, welche die künstlerische Leitung innehaben. Ausserdem die Performer Nicolas Ferreyra, Danielle Green, Raoul Nagel und Emma Skyllbäck sowie die Gäste Hoang Anh Ta Hong und Jack Widdowson. Die musikalische Leitung liegt bei Raoul Nagel. Der letzte Akt beginnt am Sonntag um 20 Uhr. Dann mit dem Thema No man is illegal und den Gästen Sven Gey und Valérie Maerten.

Call me Punk, Baby! Ein paar schräge Töne beim Schlusssong nach einer intensiven, kurzweiligen Vorstellung.
Letzte Vorstellung: Sonntag, 12. Juni, 20 Uhr, Grabenhalle