, 5. Mai 2022
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Das Theater soll zum Abschied knallen

Das Theater St.Gallen wechselt 2023 fast die ganze Direktion aus. Katzenjammer ist aber nicht angesagt, vielmehr ein rauschendes Finale, hiess es am Donnerstag an der Präsentation des Spielplans 2022/23.

Werner Signer, Jonas Knecht, Jan Henric Bogen, Kinsun Chan, Florian Scheiber an der Spielplan-Präsentation im Umbau-Foyer. (Bilder: Su.)

Von den fünf Männern am Tisch treten vier das letzte Mal für eine Spielplanvorschau vor die Medien. Der einzige, der bleibt, sitzt in der Mitte: Jan Henric Bogen, Opernchef und künftig auch gesamtverantwortlicher Direktor von Konzert und Theater St.Gallen.

Ihm zur Linken das Duo, dessen Verträge er nicht mehr verlängert hat: Konzertdirektor Florian Scheiber und Tanzchef Kinsun Chan, sowie auf der anderen Seite, bereits früher vom Verwaltungsrat gekündigt, Schauspieldirektor Jonas Knecht. Ganz aussen Bogens Vorgänger, Noch-Direktor Werner Signer, der 2023 in Pension geht.

«Abschied und Neubeginn» seien denn auch die Stichworte zur Spielzeit 2022/23, sagt Signer. Von «ein bisschen Wehmut» spricht Jonas Knecht. Aber sonst keine Spur von «bad vibrations»: Im Schauspiel, im Tanz und im Konzert soll vielmehr noch einmal ein «Feuerwerk» an Produktionen abgehen. Abschied und Finale gelten dem Leitungsteam, aber auch dem Provisorium namens «Umbau»: Es ist die letzte Saison vor der Wiedereröffnung des dannzumal renovierten Theatergebäudes.

Viele Ur- und Erstaufführungen im Schauspiel

Hier im Umbau wird Knecht letztmals im April 2023 inszenieren, und zwar ein eigens entwickeltes Stück, stellvertretend für den Anspruch, explizit zeitgenössisches Sprechtheater zu bieten.

Der Stoff ist legendär: die Geschichte von Paula Roth, der «Hexe vom Albulatal», Wirtin im «Bellaluna», 1988 unter bis heute streitbaren Umständen ermordet. Für Knecht schliesst das Stück an seinen Anfang als Schauspieldirektor an, damals mit Vrenelis Gärtli; der Titel der «musiktheatralischen Séance» heisst: Selig sind die Holzköpfe!

«Bekenntnis zur Vielfalt von Theaterhandschriften»: Schauspieldirektor Jonas Knecht (vorne).

Komödiantisch, musikalisch, vielgestaltig in den Regiehandschriften kommt auch das weitere Schauspielprogramm daher. Marius Tschirky von der Jagdkapelle hat ein Familienstück geschrieben und komponiert, es handelt von Tieren in fremdem Fell, von Individualität und Gemeinschaft: Felltuschgnusch hat vor Weihnachten ebenfalls im Umbau Premiere.

Eine weitere Uraufführung ist Die Entfremdeten vom Hausautor dieser Spielzeit, Alexander Stutz. Erstaufführungen gibt es von Theresia Walser und einmal mehr von Wolfram Lotz, und als Abschluss steht im Mai in der Lok ein Projekt von Hausregisseurin Barbara-David Brüesch und Musiker Michael Flury auf dem Programm, Arbeitstitel: Zwischen den Welten.

Benefizkonzert für die Ukraine

Das Theater St.Gallen veranstaltet einen Benefizabend für die Ukraine unter Leitung der ukrainischen Dirigentin Margaryta Grynyvetska. Mitglieder des Schauspielensembles lesen Texte von Serhij Zhadan, Katja Petrowskaja und Natalia Vorozhbyt. Mitglieder des Musiktheaters singen mit Chorsolist:innen des Kyiv National Academic Operetta Theatre Werke der ukrainischen Komponisten Myroslaw Skoryk und Walentyn Sylwestrow, von Bach, Beethoven und anderen.

1. Juni, 19.30 Uhr, Tonhalle St.Gallen

theatersg.ch

Russland bleibt auf dem Spielplan

Neben vier Uraufführungen und drei Schweizer Erstaufführungen sowie weiteren Kinder- und Schulproduktionen findet auch noch Ibsens Volksfeind Platz, der Klassiker um Betrug und Eigennutz, der für Knecht aktueller kaum sein könnte, sowie eine Bearbeitung von Lew Tolstois Anna Karenina. Mirja Biehl dramatisiert und inszeniert den gewaltigen Stoff.

Für das Theater St.Gallen sei es, trotz des Kriegs gegen die Ukraine, keine Frage, weiterhin russische Autor:innen zu spielen, sagt Knecht dazu. Und Konzertdirektor Florian Scheiber doppelt nach: «Selbstverständlich setzen wir russische Musik nicht vom Programm ab.» In der Tonhalle stehen Werke von Prokofjew, Rachmaninow, Strawinsky auf dem Programm, dazu, lange vor dem Krieg geplant, die 7. Sinfonie des ukrainischen Komponisten Walentyn Sylwestrow.

Die Absetzung von Tschaikowskis Jungfrau von Orleans an den diesjährigen Festspielen, vor zwei Wochen bekanntgegeben, habe im Publikum etwa «fifty-fifty» Reaktionen hervorgerufen, sagt Jan Henric Bogen auf Nachfrage. Das «gespaltene Meinungsbild» widerspiegle das Ringen innerhalb des Leitungsteams; man habe sich mit dem Entscheid schwer getan und wolle «den Diskussionen nicht aus dem Weg gehen».

Jan Henric Bogen, Kinsun Chan, Florian Scheiber.

Das Njet gelte keineswegs der russischen Kultur allgemein, sondern ausdrücklich «diesem Stück an diesem Ort». Das Thema Krieg, sagt Bogen, werde auch im Ersatzstück von Verdi präsent sein.

Scheibers Herzensprojekte

Aus dem weiteren Tonhallen-Programm hebt Florian Scheiber Mahlers Neunte hervor, ein Projekt, das im dritten Anlauf jetzt endlich viren- und hindernisfrei zustandekommen soll. Für Mahlers «opus summum» bringt Chefdirigent Modestas Pitrenas im Februar 2023 seine beiden Orchester zusammen, das St.Galler und die Litauische Nationalphilharmonie Vilnius.

Entdeckungen sind die Chants d’Auvergne des Franzosen Joseph Canteloube oder ein Werk des «doppelt vergessenen» deutschen Komponisten Walter Braunfels. Das Gastorchester aus Biel/Solothurn bringt Strawinskys Sacre in die Tonhalle, und spartenübergreifend konzertant stemmen Musiktheater und Schauspiel Wagners Ring an einem Abend mit den Texten von Loriot auf die Bühne.

Instrumental ragen das Violinkonzert von Brahms (mit Rosanne Philippens), der Abschluss des Rachmaninow-Zyklus (mit Pianistin Anna Fedorova), Mozart (mit Lars Vogt) oder Bandoneonist Marcelo Nisinman (mit Piazzolla) heraus. Im Meisterzyklus sind unter anderen Pianist Fazil Say, Cellistin Sol Gabetta oder das Emerson Quartett auf seiner Abschiedstournee angekündigt.

Scham und Schönheit im Tanz

Tanzchef Kinsun Chan startet mit einem Stück um Selbstwert, Normen und Individualität. Das italienische Duo Francesca Frassinelli und Mauro Astolfi choreografiert Scham(los). Ein weiteres Tanzdoppel, Giovanni Insaudo und Julian Nicosia, hat Chan für einen Abend zum unverwüstlichen Thema Beast and Beauty engagiert.

Der Choreografie-Nachwuchs kommt bei RAW 2 zum Zug, und Chan selber choreografiert mit dem Sinfonieorchester und der Tanzkompanie einen Doppelabend Jupiter und Venus, mit Werken von Mozart und der britisch-bulgarischen Komponistin Dobrinka Tabakova. Seinen Abgang hat Kinsun Chan dann an den Festspielen in der Kathedrale mit einer Reverenz an Theaterdirektor Werner Signer und dessen Liebe zu den Blechblasinstrumenten.

Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges (1745-1799)

Black Lives Matter auf der Opernbühne

Jan Henric Bogen, Opern- und bald Gesamtdirektor, hat sich Diversity auf die Fahne geschrieben und für die kommende Spielzeit das Motto «Gemeinsam anders sein» gewählt. Programmatisch dafür ist der Auftakt: Der anonyme Liebhaber heisst die einzige Oper des Mozart-Zeitgenossen Joseph Bologne. Der Sohn eines Franzosen und einer senegalesischen Sklavin machte in Paris Furore als Fechter, Geigenvirtuose und Komponist, durchbrach die Rassen- und Klassenschranken, ein Popstar seiner Epoche, wie Bogen sagt. Er geriet aber nach seinem Tod rasch in Vergessenheit.

Der britisch-nigerianische Regisseur Femi Elufowoju Jr. verknüpft Bolognes 1780 uraufgeführte Oper mit dessen eigenem Schicksal als «Composer of Colour», der US-Dirigent Kazem Abdullah steht am Pult.

Die Realität von Black Lives Matter heute thematisiert die 2021 uraufgeführte Oper The Time of Our Singing des belgischen Komponisten Kris Defoort mit einer Geschichte aus dem Nachkriegsamerika; St.Gallen kann das Werk als Koproduktion mit der Oper La Monnaie in Brüssel anbieten.

Abschied vom Provisorium schmerzt

Aus eigenen St.Galler Kräften und wiederum spartenübergreifend von Musiktheater, Schauspiel und Tanz ist zudem eine szenische Fassung des Verdi-Requiems geplant, konzipiert von Regisseur Krystian Lada. Premiere ist am 6. Mai – Bogen will so «mit einem lauten Knall» das Provisorium verabschieden.

Der temporäre Holzbau auf dem Unteren Brühl habe sich bewährt, insbesondere auch dank der Direktanbindung an die Tonhalle, sagte Werner Signer auf eine entsprechende Frage. Ihn hier zu halten, hätte eine «Riesenchance» für künftige Kooperationen von Theater und Freier Szene geboten. Dass er nicht in St.Gallen bleiben kann, sei aber ein politischer Entscheid.

Für das Provisorium hatten sich Buchs, Altstätten und Goldach beworben. Der Kanton gab Goldach den Zuschlag; dort steht am 15. Mai eine Abstimmung an.

Letzter gemeinsamer Fototermin vor dem Provisorium: Chan, Scheiber, Knecht, Signer, Bogen (von links).

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