Das «Peschti» – ein Zeichen der Solidarität

Vor 70 Jahren erschien in der Zeitschrift DU der Aufruf, ein Dorf für die leidenden Kinder des Zweiten Weltkriegs zu bauen. Zwei Jahre darauf wurde aus Worten Realität: In Trogen wurde das Kinderdorf Pestalozzi gegründet.
Von  Katharina Flieger

Als im August 1944 der Zweite Weltkrieg Europa in Gewalt und Elend versinken liess, erschien in der drei Jahre zuvor von Arnold Kübler gegründeten Kulturzeitschrift DU ein Artikel mit weitreichenden Folgen. Die Ausgabe mit einem Themenschwerpunkt «Kriegskind» enthielt neben erschütternden Aufnahmen von Kindern in Kriegsländern und entsprechender Berichterstattung einen Aufruf, in dem der damalige Du-Redaktor und Philosoph Walter Robert Corti den Vorschlag formulierte, ein «Dorf für die leidenden Kinder» zu bauen.

«Was wir hier vorschlagen, möge als freundliche Anregung dienen. Zerstreut im ganzen Lande stehen Militärbaracken, die oft recht wohnlich eingerichtet sind. Ein grosser Teil von ihnen wird mit dem Kriegsende zu neuer Verfügung frei werfen. Würde man sie auf einem klimagesunden Areal zusammenstellen, ergäben sie insgesamt wohl ein stattliches Dorf. 
(…)

Die Dorfleitung möchten wir am liebsten in ärztliche Hände legen. Die Kinder würden dort mit vielen Erwachsenen zusammenwohnen, Menschen, die Kinder liebhaben, zugleich aber für die Gesamtprobleme dieser Welt offen sind.
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Dass die Kinder kommen werden, ist auch gewiss. Es wird ihnen geholfen, sie werden genährt, sie werden gekleidet, sie schlafen in sauberen Betten, haben ihr Zimmer mit ihren eigenen Sachen. (…) Dass sie überhaupt wieder froh werden! Vielleicht müssen ja alle Menschen etwas mehr schlafen und mehr lachen.

(…)
Wir müssen die Ordnungen des Geistes und des Herzens erhellen. Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können. Wir sind mit ihnen wieder Lernende, das ganze Dasein ist ja eine unaufhörliche Schule.

Welle der Solidarität

Was nach einer Utopie klang, wurde – nach einigen Hindernissen und in reduzierter Form – Wirklichkeit. Cortis Ideenskizze löste ein ungeahntes Echo aus, zahlreiche Leserbriefe erreichten die Redaktion. Unterschiedliche Persönlichkeiten unterstützten das Vorhaben, wie etwa der Architekt der Landesausstellung 1939, Hans Fischli, die bekannte Pädagogin Elisabeth Rotten oder die Rotkreuz­-Ärztin Marie Meierhofer.

Für den Bau des Kinderdorfes wurden verschiedene Standorte in Erwägung gezogen; letztlich lockte Trogen mit einem günstigen Landangebot. Dies war im Wesentlichen das Verdienst des damaligen Trogener Pfarrers Josef Böni, der die Menschen für das Kinderdorf begeistern konnte:

Der Gemeinderat und die Trogener Gemeindeversammlung stimmten dem Projekt zu, am Landsgemeindesonntag im April 1946 wurde die Grundsteinlegung des Kriegswaisendorfes vollzogen.

Da die meisten Hilfsgelder für Soforthilfe bestimmt waren, Cortis Vision jedoch ein permanentes Projekt beinhaltete, beschloss die Gruppe um Corti, eine gross angelegte Sammlung bei der Schweizer Bevölkerung durchzuführen. Eine heutzutage schier unvorstellbare Solidaritätswelle schwappte über die vom Krieg verschonte Schweiz, wie ein Beitrag des Schweizer Fernsehens von 1948 zeigt.

Langfristiges Projekt

Walter Robert Cortis Gedankengut basierte dabei auf den Lehren Pestalozzis, was diesen zum Namensgeber des Kinderdorfes machte. Pestalozzis Maxime «Mit Hand, Herz und Kopf» diente als pädagogisches Konzept. Corti ging es jedoch um mehr als die kurzfristige Rettung der Kinder. Das längerfristige Ziel war das friedliche Zusammenleben von Kindern aus verschiedensten Nationen. Dies sollte über Bildung geschehen, damit sich die Kinder später als Erwachsene in ihren Heimatländern für den Frieden einsetzen konnten. Kriegswaisen gleicher Herkunft waren jeweils im selben Haus untergebracht, die von einem Hausvater und Lehrer des betreffenden Landes betreut und in ihrer Kultur unterrichtet wurden. Gemeinsame Anlässe oder Wettkämpfe wurden so gestaltet, dass sich die einzelnen Gruppen aus verschiedenen Nationalitäten zusammensetzten.

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Helfer beim Häuserbau des Kinderdorfes

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Haus für Haus entsteht auf dem Hügel ob Trogen

 

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Solidaritätsaktion in Schaffhausen

 

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Heute wohnen hier keine Kinder mehr dauerhaft…

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Dafür kommen jährlich unzählige Jugendliche für interkulturelle Workshops auf den Hügel ob Trogen.

Seit der Gründung sind 70 Jahre vergangen, mit wechselnden Konfliktherden änderten sich die Regionen, aus denen die Kinder ins Appenzell kamen. Gesellschaftliche Diskurse erforderten ein Umdenken, heute leben keine Kinder mehr dauerhaft auf dem Hügel ob Trogen, stattdessen besuchen hier jährlich über 2000 Jugendliche aus der Schweiz und Südosteuropa interkulturelle Workshops. Darüber hinaus  führt die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi Bildungsprojekte mit Partnerorganisationen in Mittelamerika, Asien, Afrika und Südosteuropa durch. Nachdem die Jugendwohngruppen Ende Juni geschlossen wurden, soll in Zukunft vermehrt auf diesen bereits jetzt gut besuchten Austausch gesetzt werden.

Einen ausführlichen Bericht zu Geschichte und Gegenwart des Kinderdorfs Pestalozzi wird es in der Oktober-Ausgabe von Saiten zu lesen geben.