«Das Mobilitätssystem ist stark verzerrt»

Es ist ein dickes Buch. Das Agglomerationsprogramm 3 der Ostschweizer Kantone und Gemeinden listet 90 Massnahmen auf, mit denen die Verkehrslage verbessert werden soll – vom Autobahnanschluss Witen in Goldach-Rorschach bis zur Gleisquerung für Velos am Bahnhof Romanshorn. Fragen an Mister Aggloprogramm, Regio-Geschäftsleiter Rolf Geiger.
Von  Peter Surber

Rolf Geiger, was steht in der Stadt St.Gallen für Sie zuoberst auf der Mobilitäts-Agenda? 

Rolf Geiger: Wir müssen das Potential des Langsamverkehrs besser nutzen. St.Gallen ist bereits heute eine Fussgängerstadt – im Vergleich mit den anderen Schweizer Städten stehen wir an erster Stelle. Eine Velostadt sind wir jedoch noch nicht, auch wenn die bisherigen Agglomerationsprogramme viele Impulse gegeben haben – meistens punktuell, unauffällig, aber wirkungsvoll.

Zum Beispiel?  

Zum Beispiel das Pilotprojekt Lindenstrasse im Osten der Stadt, wo die Velos Priorität haben. Oder: die simple Versetzung eines Zauns an der Rosenbergstrasse in St.Gallen. Nah an der Realisierung ist die Freigabe der Durchfahrt für Velos auf dem SBB-Viadukt in Bruggen. Es gibt dank den Aggloprogrammen zahllose solcher Eingriffe, nicht nur in der Hauptstadt, sondern in allen Gemeinden. Überall haben wir die Schwachstellen für den Langsamverkehr ermittelt und arbeiten daran, die Fussgängerkerngebiete zu verbessern. Wichtig ist mir eine positive Grundhaltung: Es ist bereits viel passiert. Früher hiess es, in St.Gallen könne man nicht velofahren. Das stimmt definitiv nicht mehr. Und seit die E-Bikes da sind, gilt auch die Topographie der Stadt nicht mehr als Ausrede.

Reicht solche «Kosmetik»?  

Schön wäre schon auch mal ein «Leuchtturmprojekt» für das Velo. Zwei davon schlagen wir vor: Die schwierige Querung der Leonhardstrasse vom HB her Richtung Kreuzbleiche soll mit einem Tunnel gelöst werden, und an der Steinachstrasse soll eine Velopasserelle die Längsachse Richtung Osten noch komfortabler machen. Solche Projekte wären ein Statement für die Velostadt.

Was wird für die Bahn getan? 

Die S-Bahn ist ein Erfolg des ersten Agglomerationsprogramms. Sie ist allerdings noch ein Flickwerk. Im neuen Programm schlagen wir vor, an den S-Bahnhöfen die Siedlungsentwicklung zu forcieren, namentlich in Amriswil, Flawil, Herisau und Romanshorn. Wohnen und Arbeiten in Bahnnähe ist das Ziel. In der Stadt St.Gallen setzen wir auf das Konzept der «starken Stadtachsen». Entlang dieser Strassen soll verdichtet werden, sollen attraktive Plätze, städtebauliche Brennpunkte entstehen. Mobilität ist von Stadtplanung nicht zu trennen. Das gilt auch für die Steigerung der Landschaftsqualität, die im Zentrum des dritten Agglomerationsprogramms steht. Teils sind das einfache Massnahmen, die man sofort umsetzen kann. Wenn es attraktive Orte für die Naherholung gibt, muss man weniger ins Auto steigen.

«Mobilität ist zu billig, egal mit welchem Verkehrsträger – ausser mit dem Velo»: Rolf Geiger, 1976, Geschäftsleiter der Agglo St.Gallen-Bodensee.

In Ihrem Programm weit vorn plaziert ist allerdings auch der Autobahnanschluss Witen zur Erschliessung von Goldach und Rorschach. Neue Strassen ziehen mehr Verkehr an. 

Der Anschluss Witen ist eine Chance für die Entwicklung der Stadt am See und damit weit mehr als ein blosses Verkehrsentlastungsprojekt. Er verbessert die Erreichbarkeit und eröffnet neue bauliche Möglichkeiten. Sicher wird er in einem gewissen Mass mehr Verkehr bringen. Das muss man politisch abwägen.

Der Autoverkehr nimmt ungebremst zu – was ist Ihre Antwort darauf? 

Das Ziel müsste Kostenwahrheit im Verkehr sein. Das Mobilitätssystem insgesamt ist stark verzerrt und hoch subventioniert. Was beim Flugverkehr funktioniert – unterschiedliche Tarife je nach Verkehrszeiten –, das wird bei der Bahn und beim Auto gesellschaftlich bisher nicht akzeptiert. Eine «moderate» Antwort auf die Verkehrszunahme ist das Mobilitätsmanagement, das wir zusammen mit grossen Arbeitsgebern, darunter auch die Spitäler, aufgebaut haben. Einen Parkplatz erhält nur, wer keine andere zumutbare Pendlermöglichkeit hat. Darin steckt noch ein riesiges Potential. Noch besser wäre allerdings, wenn sich die Mobilität von selber «managen» würde – nämlich wenn die effektiven Kosten bezahlt werden müssten.

Das werden wir wohl nicht mehr erleben… 

Unter Umständen kann das schnell gehen – In London kam der Bürgermeister Ken Livingstone und hat mit grosser Überzeugung das Road Pricing eingeführt. Klar, in der Schweiz hängt nicht alles an einem Bundesrat…

Agglo 3

Das Agglomerationsprogramm 3, im Dezember 2016 eingereicht, ist gegenwärtig zur Prüfung in Bern. Sein Ziel ist gemäss den Verfassern «eine kompakte, grüne und clever mobile Agglomeration». 380 Millionen Franken, die Hälfte davon vom Bund, sollen dafür investiert werden. Die Vorgängerprogramme 1 und 2 hatten ihrerseits bereits rund 150 Millionen Franken aus dem Infrastrukturfonds des Bundes locker gemacht. Zu den damit finanzierten Projekten gehören neben der S-Bahn die Durchmesserlinie der Appenzeller Bahnen, die Entlastungsstrasse Arbon, Massnahmen rund um die Bahnhöfe Rorschach, Goldach, St.Fiden, Winkeln und Arnegg sowie diverse Verbesserungen für den Fuss- und Veloverkehr. Agglo St.Gallen-Bodensee ist der Zusammenschluss von drei Kantonen (SG, TG und AR) und 27 Gemeinden. Infos: regio-stgallen.ch

In St.Gallen steht die Einführung von Pförtneranlagen zur Diskussion, vor allem in Liebegg, um die chronisch verstopfte Teufenerstrasse zu entlasten.  

Solche Dosierungsanlagen sind eine zentrale Massnahme des Mobilitätsmanagements. Sie sollen sicherstellen, dass zumindest ein Verkehrsträger flüssig funktioniert und dass der öV durchkommt. Um das zu erreichen, kommen wir um Verkehrsdosierung an neuralgischen Stellen nicht herum. Liebegg ist ein Beispiel, allerdings ein umstrittenes, weil es neu ist – andere Anlagen bestehen bereits, etwa das Lichtsignal im Stephanshorn. Ähnlich sind die Probleme auf der Rorschacherstrasse, auf der Rehetobelstrasse, auf der Herisauer Strasse oder im Heiligkreuz. Der Stau wird durch Pförtneranlagen nicht aufgelöst, aber er wird dorthin verlegt, wo er weniger stört. Klar: Für gewisse Zielgruppen ist ein neues Rotlicht eine schlechte Neuigkeit. Deshalb braucht es Fairness. Noch einmal am Beispiel Liebegg illustriert: Es wäre nicht fair, wenn die Autopendler aus Teufen gebremst würden, das Stadtquartier St.Georgen aber nicht.

Die entscheidende Alternative zum Auto ist die Bahn. Wenn Sie 100 Millionen zur Verfügung hätten… 

Klar: Die Bahn ist der Hauptträger des Agglomerationsverkehrs. Die 100 Millionen würde ich in die Fernverkehrsachse St.Gallen-Zürich stecken. Die vier Züge pro Stunde sind ab 2018 zwar Tatsache, aber sie müssen schneller werden, damit St.Gallen endlich zum Fernverkehrsknoten wird. Bahn 2000 ist noch immer nicht in der Ostschweiz angekommen. Für die 80 Kilometer nach Zürich brauchen wir eine Stunde – gleichviel wie für die 175 Kilometer von Zürich nach Bern. Wir haben die schweizweit langsamste Fernverkehrsstrecke. Und das heisst: Im nationalen Vergleich hat St.Gallen an Erreichbarkeit eingebüsst.

Ginge es statt um noch mehr Tempo nicht vielmehr darum, ein paar Gänge zurückzuschalten in Sachen Mobilität, vor allem auch Freizeitmobilität? 

Das wäre wohltuend. Wir fahren viel herum – und verweilen wenig. Mit Kostenwahrheit würde der Verkehr zweifellos gebremst. Heute weist auch die Bahn einen Kostendeckungsgrad von nur rund 50 bis 60 Prozent aus. Und beim Auto bleiben die externen Kosten unberücksichtigt, mit anderen Worten: Der Nutzen ist individuell, die Schäden werden kollektiviert. Mobilität ist zu billig, egal mit welchem Verkehrsträger – ausser mit dem Velo.

Am Samstag, 9. September findet in der St.Galler Innenstadt der Mobilitätsmarkt statt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Septemberheft von Saiten.