Das Mädchen aus dem Bodensee

Lupina ist die Bodensee-Legende um ein Mädchen, welches das Dorf Steinach gleichermassen fasziniert und spaltet. Die Inszenierung der zweiten Steinacher Musikfestspiele, grösstenteils aus der Feder von Michael Finger, hats in sich. Saiten war an der Premiere.
Von  Roman Hertler
Lupina schwebt über den See. Rechts vorne Erzählerin Olga (Oliver Kühn), hinten rechts Michael Finger. (Bilder: Fritz Heinze)

Das schönste Plakat dieses Kultursommers, gestaltet von Lucia Gerhardt, weckt natürlich Erwartungen. Dieser unheimliche Glanz in den Augen des Wassermädchens, Hände und Fische, die ihr Haar umspielen. Etwas Unheimliches bahnt sich an.

Die ersten dunklen Vorahnungen werden beim Betreten des Geländes zunächst zerstreut. Elegant fügen sich das Zelt von Michael Fingers Cirque de Loin mit seinen Lichterketten und die Verpflegungsbuden in den Park gleich neben der Seebadi in Steinach. Der Sonnenuntergang vor der Vorstellung taucht das Gelände in lauschiges Licht. Noch tanzen nur die Mücken. Dann beginnt das Dorfspektakel.

Lupina – Die Legende vom Bodensee: 2. Steinacher Musikfestspiele, direkt neben der Seebadi Steinach, bis 28. August, jeweils Mittwoch bis Samstag, 20 Uhr.

steinacher-musikfestspiele.ch

Alles dreht sich um das wunderliche Mädchen Lupina, das nach dem Hungertod seiner Mutter, einer «Steinacher Hure», ebenfalls für tot befunden, eingesargt und verbuddelt wird. Darauf zieht ein Gewitter übers Land, spült das Särglein auf den offenen Bodensee, ein Blitz zerschmettert den Deckel und das Mädchen erwacht aus seiner Ohnmacht. Der Steinacher Simon, engagiert gespielt von Ex-Gemeindepräsident Roland Brändli, rettet die Kleine und das Unheil kann seinen Lauf nehmen.

Glück und Unglück

Lupina bringt Glück ins Dorf. Einer Familie wird sie zur zweiten Tochter, dem Vater, einem versoffenen Fischer (Christoph Hess), gehen zur Freude seiner Frau (Petra Brändli) endlich wieder Unmengen von Fischen ins Netz. Doch das Unglück folgt auf dem Fuss.

Im Dorf machen sich nebst Bewunderung auch Unmut und Angst breit, angeheizt durch den Neid des Weinhändlers Weininger (Christoph Klingler), der bei den neu geknüpften Handelskontakten zwischen Mailand und Steinach leer ausgeht. Man ahnt es, es droht ein Drama, an dem die Dorfgemeinschaft beinahe zerbricht. Und die Kirche spielt dabei eine äusserst unrühmliche Rolle.

Die kleine Lupina in den Armen ihres Retters Simon.

Schon die Eingangsszene zeigt, mit welch artistischen Leistungen Lupina – die Legende vom Bodensee aufwartet. So balanciert am Anfang die kleine Lupina (Finja Brändli, fünf Jahre jung und die dritte Beteiligte der Familie Brändli) mühelos übers Hochseil und stürzt sich von dort wagemutig in Simons rettende Arme.

Lupina wächst, Philomène Perrenoud übernimmt die Rolle und bietet gemeinsam mit dem ebenfalls zirzensisch geschulten Felix Greif (Leo, der Schwarm von Lupinas «Schwester» Nea) kühne Sprünge auf dem Schleuderbrett dar. Welches Zirkusgerät eignet sich besser zur Darstellung eines schunkelnden Fischerboots? Auch der humoristisch-erotische Liebestanz zwischen Nea (Thea Rinderli, ebenfalls artistisch talentiert) und Leo findet darauf statt.

Lupina, das Hauptstück der zweiten Steinacher Musikfestspiele, trägt eindeutig Michael Fingers Handschrift. Zusammen mit Oliver Kühn (Erzählerin Olga, Pfaff) vom Theater Jetzt hat er «die Legende vom Bodensee» inszeniert.

Finger hat auch einen Grossteil der Musik geschrieben. Er dirigiert, spielt und singt durch den Abend, begleitet von einer grossartigen Band mit Andi Bissig (Sax), Gabriel Walter (Klavier), Victor «Rüsseltier» Hege (Sousaphon) und Adrian Egger (Percussion).

Lupinas Teufelstanz

Eindeutig sind die Rollen aber nicht. Immer wieder wird die Band in die Szenen integriert. Der Chor Amazonas Steinach (Leitung Maja Beck) – einige Mitglieder waren schon bei den ersten Steinacher Musikfestspielen 2019 dabei – übernimmt Statist:innen- und bewegte Bühnenbildrollen. Über den Chor springt die Stimmung auf der Bühne direkt aufs Publikum über.

Die musikalische Umrahmung macht den Grossteil des Ambientes dieses kurzweiligen Spektaktels aus. Atmosphärischer Höhepunkt ist der diabolische Tanz der Lupina, die es innerlich zerreisst ob des Dorfstreits, für den sie sich verantwortlich fühlt. Nachdem sie einer «schwarzen Seekatze» den Kopf abbeisst und das Blut nur so spritzt, dreht sie ihre Runden durch die Manege, im Rhythmus der jetzt alles dominierenden Pauken und Trommeln, die mit einem düsteren Bassteppich untermalt sind.

Akrobatischer Versöhnungstanz: Leo und Nea auf der Trapezstange.

Das Stück ist ein einziges Auf und Ab der Gefühle: Liebe, Lust, Wut, Hass, Trauer, Freude, Ektase: Alles kommt in diesem rasanten, aber nie gehetzten Stück zum Ausdruck. Auch Themen wie Gerechtigkeit, Umgang mit Mitmenschen und Natur, Fischarten, die nicht in den See gehören oder Littering werden mal offensichtlich, mal beiläufig, aber immer unaufdringlich verhandelt. Im Zentrum aber steht das Drama um das mysteriöse Mädchen vom See, das niemanden unberührt lässt.

Es ist nicht leicht, zusammenzufassen, was Lupina alles ist: Fischersage, Tanzstück, Zirkus-Akrobatik, Musical, Dorfklamauk. Auf natürliche Weise gelingt es, Laien- und Profidarbietung zu vereinen. Ein kollektives Erlebnis, das sich auf das Publikum überträgt und über den Schluss des Stücks hinausweist.

Nach rund 90 kurzweiligen Minuten im sommerschwülen Zirkuszelt treten Publikum und Ensemble gemeinsam ins Freie, wo ums Lagerfeuer weiter getrommelt, getanzt und gesungen wird.