Es kam mir vor, als hätte ich im vergangenen Jahr gleich zehn Jahre auf einmal gelebt. Als ob das Jahr erst gestern und gleichzeitig schon vor hundert Jahren begonnen hätte. Es war ein wildes Rennen – so fühlt es sich an, wenn man versucht, alles nachzuholen, was man verloren hat.
Ich musste mich zum Beispiel sehr schnell in das hiesige Gesundheitssystem eindenken, verstehen, was überhaupt diese Versicherung ist ... Ich war gefühlt so oft bei meiner Krankenkasse, dass die Mitarbeitenden mich zu grüssen begannen und sich sogar freuten, als ich anfing, mit ihnen Deutsch zu sprechen.
Dann die deutsche Sprache! Was für ein Riesenerfolg in meinem Jahr! Jeden Tag lernte ich Deutsch. Letztes Jahr traute ich mich, von einer Schule zur anderen und dann sogar in eine Klasse mit intensiviertem Unterricht zu wechseln. Doch um wirklich glücklich zu sein, belegte ich auch alle möglichen Zusatzkurse. Ich übte viel. Sowohl alleine als auch mit anderen. Es gab sogar Zeiten, in denen ich zu einem Gesprächskreis in die Bibliothek ging, das war grossartig. Dazu kam noch ein Deutschkurs in einer Kirche ausserhalb der Stadt. Ich mochte den Weg dorthin wirklich sehr. Alles auf einmal. Und ich sprach echt viel. Die ersten Male staunte ich, als mich Passant:innen nach dem Weg fragten oder etwas anderes von mir wissen wollten. Aber ich antwortete gern – und das machte gute Laune.
Eine Wohnung finden! Ein halbes Jahr suchen!
Dringend Freunde finden! Mein Gott, war ich glücklich, als ich meine ersten zwei Kolleginnen in St.Gallen fand.
Ich weiss noch, wie ich im Sommer tief durchatmete und verstand, dass ich durch die Flucht, durch all das, was um mich herum geschah, und durch die inneren Veränderungen und Prozesse im Leben in einem Schockzustand war: Ich versuchte, so schnell wie möglich alles nachzuholen, was zu meinem früheren Leben gehörte.
Und dann begann ich, mich umzusehen.
Auf einmal wusste ich, wohin der Bus fährt und wo dieses St.Fiden ist, und ging oft einfach zu Fuss. Ich wusste, wann die Lebensmittel am Abend reduziert werden. Sogar, wo es guten Kaffee gibt, weil es im Sommer das erste Kaffeefestival gab. Das war ein echtes Fest – ich komme ja aus Lviv, der Stadt des Kaffees. Ich konnte auch Winterthur besuchen, weil ich dort seit zwei Jahren eine tolle Kollegin habe, und seit Herbst noch eine weitere. Es begann, sich langsam wieder nach Leben anzufühlen und nicht mehr nach einem höllischen Durcheinander.
Und dann kam langes Schweigen.
Es schien mir, als würde ich anfangen zu verstehen, wer ich bin, was das hier überhaupt soll, und wie alles funktioniert. Ich fing an, zuzuhören, und andere begannen, mir zuzuhören. So ein Jahr war das.
Ich würde an der Stelle gerne sagen, dass wundervoller Schnee fällt und alles märchenhaft ist, aber das stimmt nicht. Dafür habe ich begonnen, grundlegende Sachen zu verstehen, die man meist nur in der Stille und in eigenen Gedanken findet. Und so möchte ich die neue Seite im kommenden Jahr anfangen – mit dieser Klarheit und in friedlicher Ruhe.
Liliia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukraine. Die Journalistin, Essayistin und Sozialaktivistin ist im Frühling 2022 in die Schweiz gekommen und lebt derzeit in St.Gallen. Ol’ha Gneupel hat den Text übersetzt.