Das Leben neu anfangen

In ihrer Januar-Stimmrechtskolumne resümiert die Autorin über ihr erstes Jahr in der neuen Heimat, ihr Ankommen und was das mit Sprache und Busfahren zu tun hat.

Es kam mir vor, als hät­te ich im ver­gan­ge­nen Jahr gleich zehn Jah­re auf ein­mal ge­lebt. Als ob das Jahr erst ges­tern und gleich­zei­tig schon vor hun­dert Jah­ren be­gon­nen hät­te. Es war ein wil­des Ren­nen – so fühlt es sich an, wenn man ver­sucht, al­les nach­zu­ho­len, was man ver­lo­ren hat.

Ich muss­te mich zum Bei­spiel sehr schnell in das hie­si­ge Ge­sund­heits­sys­tem ein­den­ken, ver­ste­hen, was über­haupt die­se Ver­si­che­rung ist ... Ich war ge­fühlt so oft bei mei­ner Kran­ken­kas­se, dass die Mit­ar­bei­ten­den mich zu grüs­sen be­gan­nen und sich so­gar freu­ten, als ich an­fing, mit ih­nen Deutsch zu spre­chen.

Dann die deut­sche Spra­che! Was für ein Rie­sen­er­folg in mei­nem Jahr! Je­den Tag lern­te ich Deutsch. Letz­tes Jahr trau­te ich mich, von ei­ner Schu­le zur an­de­ren und dann so­gar in ei­ne Klas­se mit in­ten­si­vier­tem Un­ter­richt zu wech­seln. Doch um wirk­lich glück­lich zu sein, be­leg­te ich auch al­le mög­li­chen Zu­satz­kur­se. Ich üb­te viel. So­wohl al­lei­ne als auch mit an­de­ren. Es gab so­gar Zei­ten, in de­nen ich zu ei­nem Ge­sprächs­kreis in die Bi­blio­thek ging, das war gross­ar­tig. Da­zu kam noch ein Deutsch­kurs in ei­ner Kir­che aus­ser­halb der Stadt. Ich moch­te den Weg dort­hin wirk­lich sehr. Al­les auf ein­mal. Und ich sprach echt viel. Die ers­ten Ma­le staun­te ich, als mich Pas­sant:in­nen nach dem Weg frag­ten oder et­was an­de­res von mir wis­sen woll­ten. Aber ich ant­wor­te­te gern – und das mach­te gu­te Lau­ne. 

Ei­ne Woh­nung fin­den! Ein hal­bes Jahr su­chen! 

Drin­gend Freun­de fin­den! Mein Gott, war ich glück­lich, als ich mei­ne ers­ten zwei Kol­le­gin­nen in St.Gal­len fand. 

Ich weiss noch, wie ich im Som­mer tief durch­at­me­te und ver­stand, dass ich durch die Flucht, durch all das, was um mich her­um ge­schah, und durch die in­ne­ren Ver­än­de­run­gen und Pro­zes­se im Le­ben in ei­nem Schock­zu­stand war: Ich ver­such­te, so schnell wie mög­lich al­les nach­zu­ho­len, was zu mei­nem frü­he­ren Le­ben ge­hör­te. 

Und dann be­gann ich, mich um­zu­se­hen. 

Auf ein­mal wuss­te ich, wo­hin der Bus fährt und wo die­ses St.Fi­den ist, und ging oft ein­fach zu Fuss. Ich wuss­te, wann die Le­bens­mit­tel am Abend re­du­ziert wer­den. So­gar, wo es gu­ten Kaf­fee gibt, weil es im Som­mer das ers­te Kaf­fee­fes­ti­val gab. Das war ein ech­tes Fest – ich kom­me ja aus Lviv, der Stadt des Kaf­fees. Ich konn­te auch Win­ter­thur be­su­chen, weil ich dort seit zwei Jah­ren ei­ne tol­le Kol­le­gin ha­be, und seit Herbst noch ei­ne wei­te­re. Es be­gann, sich lang­sam wie­der nach Le­ben an­zu­füh­len und nicht mehr nach ei­nem höl­li­schen Durch­ein­an­der. 

Und dann kam lan­ges Schwei­gen. 

Es schien mir, als wür­de ich an­fan­gen zu ver­ste­hen, wer ich bin, was das hier über­haupt soll, und wie al­les funk­tio­niert. Ich fing an, zu­zu­hö­ren, und an­de­re be­gan­nen, mir zu­zu­hö­ren. So ein Jahr war das. 

Ich wür­de an der Stel­le ger­ne sa­gen, dass wun­der­vol­ler Schnee fällt und al­les mär­chen­haft ist, aber das stimmt nicht. Da­für ha­be ich be­gon­nen, grund­le­gen­de Sa­chen zu ver­ste­hen, die man meist nur in der Stil­le und in ei­ge­nen Ge­dan­ken fin­det. Und so möch­te ich die neue Sei­te im kom­men­den Jahr an­fan­gen – mit die­ser Klar­heit und in fried­li­cher Ru­he. 

Li­li­ia Matviiv, 1988, stammt aus Lviv in der Ukrai­ne. Die Jour­na­lis­tin, Es­say­is­tin und So­zi­al­ak­ti­vis­tin ist im Früh­ling 2022 in die Schweiz ge­kom­men und lebt der­zeit in St.Gal­len. Ol’ha Gn­eu­pel hat den Text über­setzt.