, 27. November 2023
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«Das grösste Übel ist der Unverstand»

Am Freitag feierte Susanne Schmelchers Inszenierung von «Antigone» am Theater Konstanz Premiere. Die Regisseurin kleidet Sophokles‘ antiken Stoff sprichwörtlich in neues Gewand und spricht mit dem Stück auch die Schrecken der Gegenwart an. von Franziska Spanner

Bild: Ilja Mess, Theater Konstanz

Eine bimmelnde Fahrradklingel bringt das murmelnde Publikum zum Schweigen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Person, die da auf einem Kinderfahrrad (sogar mit Fähnchen!) durch den Gang im Auditorium braust. Hellblondes, leicht struppiges Haar, weiss gekleidet, unschuldiger, aber klarer Blick. Sara Siri Lee König macht den Auftakt als Seher Tiresias, und schildert dem Publikum den Stand der Dinge: «Ein Krieg ist aus!» Welch frohe Kunde, möchte man meinen. Doch da nimmt die Tragödie um Antigone, Tochter des Ödipus, erst ihren Lauf.

Antigones Brüder Polyneikes und Eteokles erschlugen sich gegenseitig im Kampf um den Thron von Theben. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. In der Stadt mit den sieben Toren ist es Kreon, Antigones Onkel, der nunmehr König wird. Dieser verbietet, Polyneikes ordnungsgemäss zu bestatten und wirft seinen Leichnam lieber den Vögeln und Hunden auf dem Feld vor der Stadt zum Frass vor. Antigone jedoch will dies nicht hinnehmen und ihrem Bruder eine Beisetzung nach den göttergefälligen Riten angedeihen lassen, auch wenn sie damit die Todesstrafe riskiert. Selbst ihre Schwester Ismene kann sie nicht aufhalten («Unmögliches muss man nicht erst versuchen»).

Text-Bild-Schere

Ingo Biermann ähnelt als Kreon im Leoparden-Mantel, silbern glänzender Latexhose und Totenkopfgürtel (Kostüm: Franziska Smolarek) eher einem Zuhälter, denn einem antiken König. Im Text und auch im Spiel kommt der schmierige, nepotistische Charakter, den man danach erwarten würde, allerdings nicht zum Tragen. Kein Wunder: Sophokles‘ Kreon kann man Vieles vorwerfen, aber ein Gierschlund ist er nicht. Vielmehr zeigt er, dass auch Herrschaft nach Punkt und Komma des Gesetzes ungerecht sein kann. Sturheit und Rigidität werden ihm zum Verhängnis.

Auch Hämons Outfit passt nicht recht zur Figur. Mit dem silbernen Jackett auf nackter Brust und Gliederkettchen verbindet man mehr den Lebemann und Proleten als den vernunftbegabten Mahner, der Kreon zur Mässigung aufruft («Du möchtest reden, nicht hören»). Insgesamt ist das Kostümbild mit Sci-Fi-Touch zwar harmonisch, korrespondiert aber nicht mit der Botschaft des Stücks.

Leider gilt das teilweise auch für das Bühnenbild (ebenfalls von Franziska Smolarek). Die ästhetischen «Steinplatten» lösen sich schon früh vom Bühnenboden ab und schlagen unvorteilhafte Wellen. Die ringförmige Lampe im Zentrum der Bühne schafft zwar über weite Strecken der Handlung eine beeindruckende Atmosphäre, der aufgehenden griechischen Sonne gleich. Doch hält die Regie es leider für nötig, just während des dramatischen Höhepunkts, einem Dialog zwischen Kreon und Tiresias, die Lampe von Ensemblemitgliedern (etwas zu geräuschvoll) auseinanderbauen zu lassen. Zusätzlich zur Ablenkung hinterlässt dieser Vorgang ein halbes Lampenteil auf der Bühne, nur um die noch hängende Hälfte für einen kurzen Augenblick durch die Luft ins Off schweben zu lassen.

Dementgegen gelingt es, den Bühnenhintergrund mit einem vor die Rückwand gespannten Stofftuch, das einen körnigen Filter auf die Projektionen legt, stimmungsvoll zu entrücken. Das erzeugt mystische, ja mythische, Bilder.

Glänzende Nebenrollen

Stichwort Mythos: Die Figur des Sehers Tiresias ist wahrlich das Highlight der Inszenierung. Statt eines allwissenden, vergreisten Eremiten, begegnet dem Publikum das scheinbar naive Kind mit dem Lolli aus der Hosentasche im Mund. Und Kindermund tut bekanntlich Wahrheit kund. Sara Siri Lee König vereinbart den Ausdruck kindlicher Unvoreingenommenheit mit messerscharfem Verstand. Tiresias spricht die bittere Wahrheit, die niemand hören möchte.

Auch Jasper Diedrichsen als Bote kommt die Aufgabe zu, schlechte Nachrichten zu überbringen. Er lässt das Publikum seine Angst vor unverdienten Konsequenzen förmlich spüren. Besonders berührend ist sein nachdenklicher ans Publikum gerichteter Monolog, während dem seine glänzenden Augen durch die Reihen wandern und den einen oder die andere eindringlich anblicken.

Unbedacht grausam

Ebenso eindringlich sind bisweilen die Gesangs- und Performanceelemente (Musikalische Leitung: Svea Kirschmeier). Sie nehmen rhythmisch und klanglich Stimmungen des Stücks auf und verstärken textlich die Bezüge des Stoffs zu unserer Lebenswelt. Es wird etwa der Mensch als grausames Wesen angeprangert, das nicht nur seine Lebensgrundlage, sondern auch sich selbst mühelos vernichtet.

Ohne Not belässt es die Inszenierung nicht bei der antiken Mahnung, sondern winkt dem Publikum zum Ende noch mit dem moralischen Zaunpfahl. Die sanfte, aber prinzipientreue Antigone, gespielt von Anne Rohde, bringt es mit Sophokles Worten auch ohne moderne Textergänzung auf den Punkt: «Nicht zu hassen, zu lieben bin ich da.» Sie appelliert an den Verstand ihrer Mitmenschen und wird doch nicht gehört.

Gerade der «gesunde Menschenverstand» hat in den letzten Jahren einen bitteren Beigeschmack bekommen, da insbesondere Gruppierungen, die ihre Weltsicht anderen aufzwingen möchten, ebenjenen für sich reklamieren. Es geht ihnen oft gar nicht darum, zu verstehen, sondern das Verstandene zu beurteilen.

Antigone fordert eine andere Form des Verstandes: Jeder Konflikt muss einmal beigelegt werden, damit Frieden einkehren kann. Wer sogar die Toten zu bestrafen sucht, den bestrafen am Ende die Götter.

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