Das Grau des Hundwiler Nebels
«Karin Bendel zeigte den Appenzeller Hügelkuppen ihren ausgestreckten Mittelfinger.» So beginnt Appenzeller Abrechnung – mit einer jungen, rebellischen Frau, die am Tag der Ausserrhoder Landsgemeinde im Jahr 1989 dem entgegenfiebert, was schliesslich eintrifft: dass die Frauen endlich das kantonale Stimmrecht erhalten.
30 Jahre später wird Karin Äschermann, ehemals Bendel, beim Rossfall in Urnäsch tot aufgefunden. Für die Polizei steht fest, dass es sich um Mord handelt. Als Ermittler übernimmt Jock Kobel, der erst vor kurzem in seine Appenzeller Heimat zurückgekehrt ist, und der eine Affäre mit der inzwischen verheirateten Karin hatte.
Wer hat Karin Äschermann getötet? Und was könnte der Mord mit dem 30. April 1989 zu tun haben, dem Landsgemeindetag? Diese Fragen stehen im Zentrum des Debütkrimis von Christian Johannes Käser, der in Herisau aufwuchs und sich selbst als «Heimweh-Appenzeller» bezeichnet. Es ist reizvoll, mit dem Ermittler Jock über den Landsgemeindeplatz in Hundwil zu gehen, in seiner Wohnung in Herisau auf hässliche Betonbauten zu blicken oder die fiktive Wellnessoase «Mio Spa» bei der Talstation der Mühleggbahn in St. Gallen aufzusuchen.
Viel appenzellisches Lokalkolorit
Man folgt Jock Kobel zunächst bei seinen teils unkonventionellen, teils illegalen Ermittlungen. Er, der Junggeselle, Mitte 40, weiss mit seinem Leben gerade nicht viel anzufangen und steckt mitten in der Midlifecrisis.
Christian Johannes Käser: Appenzeller Abrechnung – Jock Kobel und die Schatten der Landsgemeinde. Atlantis Verlag, Zürich 2024.
«Jock schaute aus dem Fenster in das langsam dunkler werdende Grau des Hundwiler Nebels. Seine Gedanken gingen wild durcheinander. Was hatte Karin so aufgewühlt?»
Jock muss sich eingestehen, wie wenig er Karin tatsächlich gekannt hat. Umso wichtiger ist es ihm, den Mörder zu finden. Dieser Ehrgeiz kommt dem Lösen des Falls zugute, weniger der Glaubwürdigkeit der Handlung. So steigt Jock in die Villa eines Verdächtigen ein, schleicht in der Beiz der Eltern von Karin herum und provoziert in Zürich eine Schlägerei. Die Figuren wirken teilweise überzeichnet, etwa die Polizeikollegin, die vor dem Haus des Witwers Äschermann Sportübungen macht, oder die Wirtin im «Mötli», die zu ihrem Stammkunden Jock schonmal Dinge sagt wie: «Du bist ein Arschloch, Jock, aber ich liebe dich trotzdem.»
Der Autor spart auch in Bezug aufs appenzellische Lokalkolorit nichts aus. Sonnwendlig und Quöllfrisch wird getrunken, Bilder von Silversterchläusen hängen an den Wänden und der obligate Naturheilkundler tritt auf. Es wird gejodelt, gewandert und gejasst und der Alpstein wird immer wieder beschrieben – mal gelungen, mal weniger.
Aber über all das kann man hinwegschauen, auch über die Zufälle, die sich da und dort häufen. Denn man folgt ihm gerne, diesem Jock, eigentlich «Joe» getauft. Nach der Hälfte des Buches nimmt der Fall wieder Fahrt auf und die Spannung steigt. Die beiden Erzählstränge – einmal der Strang der Jetztzeit, einmal der weitaus kürzer gehaltene Strang, der am 30. April 1989 spielt – verbinden sich immer stärker miteinander. Je näher Jock der Auflösung kommt, desto mehr fiebert man mit.
Ist Karin damals, am 30. April 1989, etwas zugestossen? Ausgerechnet an jenem Tag, der ihr und anderen Frauen des Kantons die Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft gab? Warum wurde sie von einem Tag auf den anderen so schweigsam?
Es geht auch um Geschlechterverhältnisse
Christian Johannes Käser problematisiert immer wieder die Geschlechterverhältnisse. Ein Thema, das auch im Appenzeller Hinterland so viele Fragen aufwirft nach Macht und Machtmissbrauch, Tradition und Moderne, Angst und Ohnmacht.
Am Ende ist dann auch klar, was wir längst wissen: Es gibt sie noch, die Männer, die der Meinung sind, ab und zu müsse man «einer Frau die Grenzen aufzeigen». Aber es gibt auch den lernfreudigen Jock, der einmal auf so eine misogyne Aussage erwidert: «Du hörst nicht zu. Und du hörst vor allem den Frauen nicht zu. Das war auch nicht so meine Stärke. Wenn ich Karin besser zugehört hätte, vielleicht mal nachgefragt, dann hätte sie möglicherweise mit mir über das Geschehene geredet.»
Appenzeller Abrechnung ist eine kurzweilige Lektüre, die den Versuch unternimmt, gesellschaftsrelevante Themen anzusprechen, und einen spannenden Bogen zwischen historischen Tatsachen und einem Mord schlägt. Ein Krimi für alle Heimweh-Appenzeller:innen und darüber hinaus!