«Das Einfachste ist das Schwerste»  

2022 feiert Mummenschanz das 50-Jahr-Jubiläum und gastiert mit «50 Years» in der Ostschweiz. Die Truppe mit Sitz in Altstätten hat eine eigene Kunstform geschaffen, ein universelles Theater der Masken, Formen und Bewegungen. Ein Gespräch mit dem Autor des Jubiläumsbuchs, Roy Oppenheim. Von Urs Oskar Keller
Von  Gastbeitrag
Mummenschanz, 1988 auf Tournee mit dem Zirkus Knie in Kreuzlingen. (Bild: uok)

Wann sind Sie Mummenschanz zum ersten Mal begegnet?

Roy Oppenheim: Das erste Mal auf der Bühne sah ich Bernie Schürch und Andres Bossard in einem Kleintheater in Bern. Sie zeigten neuartige verrückte Bühnenexperimente. Schon damals fast ohne Worte. Oft sassen gerade mal fünf Leute im Publikum im Berner Theater am Käfigturm. Mummenschanz traten dann jeweils vor den Vorhang und stimmten ab, ob die Aufführung unter diesen Bedingungen stattfinden sollte. Die vier, fünf Gäste waren immer dafür. Mit der Zeit allerdings bedurfte es finanzieller Einnahmen, ohne jedoch die idealistische Grundhaltung der Mummenschanz-Truppe infrage zu stellen. Diese Gratwanderung zwischen Kunst und Kommerz findet bis heute statt.

Mummenschanz-Poesie: worm you – me. (Bilder: Verlag)

Was fasziniert Sie an den Mimen ohne Worte?

Das Einfachste ist das Schwerste. Mummenschanz setzt in dieser lauten Welt auf ein stilles Theater, das jeden einzelnen Besucher berühren möchte. Die Mummenschanz-Artisten reden nicht, singen nicht, haben kein Dekor. Sie agieren meist anonym, hinter oder in ihren Masken. Die Darstellerinnen und Darsteller stehen nicht im Vordergrund, sondern bleiben diskret verborgen. Diese besondere Art von Bescheidenheit ist in einer Welt des Starkults und der elektronischen Feuerwerke wohltuend und zukunftsweisend.

Ihr Buch ist die dritte Publikation über Mummenschanz, nach zwei Bildbänden 1984 und 1997. Wie ist Ihr Werk entstanden, und was waren die interessanten und schwierigen Momente während der Arbeit?

Roy Oppenheim: Mummenschanz – Die Virtuosen der Stille und ihre erfolgreiche Reise durch die Welt der Fantasie, Verlag Werd & Weber, Thun 2021, Fr. 49.-

Vor zwei Jahren hat mich Marc Reinhardt, der Geschäftsführer von Mummenschanz, kontaktiert. Anschliessend habe ich Mummenschanz in Altstätten besucht, und Floriana Frassetto und ich haben uns ausgetauscht, um zu sehen, ob unsere «Chemie» stimmt. Die interessantesten Momente waren und sind die unterschiedlichsten Begegnungen mit den Menschen, die Mummenschanz verkörpern. Die schwierigsten Aspekte waren die Recherchen. Denn bis heute gibt es kein zentrales Archiv. Vieles musste mühsam aus Zeitungen, Radio- und Fernsehsendungen rund um den Erdball zusammengesucht werden.

Gibt es auch kritische Äusserungen im Buch?

Mit 32 Zeugen aus den letzten 50 Jahren hatte ich Kontakt. Natürlich gibt es kritische Aspekte. Etwa die Schwierigkeiten der neuen jungen Kräfte, mit den komplizierten Masken und Kostümen zurechtzukommen. Oder die finanziellen Probleme, die der Mäzen und Hans Jörg Tobler 1997 zu lösen versuchte, um Mummenschanz vor dem Bankrott zu bewahren.

Gründungsmitglied Andres Bossard starb 1992 an Aids. Bernie Schürch verliess die Truppe 2012 nach 5’700 Vorstellungen aus Altersgründen. Floriana Frassetto ist 71jährig. Wie sehen Sie die Zukunft der Truppe?

Mummenschanz verfügt heute über junge, neue Künstlerinnen und Künstler. Das ist die Grundlage für die Zukunft. Entscheidend war und ist das Feu sacré, das innere Feuer, welches Mummenschanz während 50 Jahren beflügelte, zu immer neuen Ideen, Figuren, Geschichten vorwärts treibt und Mummenschanz einen Halt gibt. Humor ist ein zentrales Element in der Welt von Mummenschanz. Humor bedarf einer überlegenen Gemütsstimmung, verrät humane Gelassenheit, philosophische Besinnung und Betrachtung, vor allem auch menschliche Schwächen und Unzulänglichkeiten. Humor ist deshalb Zeugnis einer geistigen Freiheit, nicht alles – und schon gar nicht sich selber – allzu ernst zu nehmen. Humor bedient sich des Schmunzelns, oft auch des Witzes und der paradoxen Situation, des Aufeinandertreffens von zwei Dingen, die eigentlich gar nicht zueinander passen. «Selbstbewusstsein ist nicht komisch, auch Stolpern ist nicht komisch, nur beides zusammen», sagt Max Frisch.

Mummenschanz-Klassiker: Wire Heads.

Der Name Mummenschanz kommt ursprünglich «von vermummten Personen während der Fastnachtszeit gespieltes Würfelspiel», so steht es im Duden. Warum hat sich das Trio seinerzeit diesen Namen gegeben?

Über die Entdeckung des Begriffs Mummenschanz sind verschiedene Legenden im Umlauf. 1972 findet im Musée de l’Homme in Paris eine Ausstellung über das Bauhaus mit Werken von Oskar Schlemmer statt, die Floriana, Andres und Bernie in Paris besuchen. Die drei Gründungsmitglieder erkennen sofort: Das ist kein traditionelles Theater, sondern ein modernes Spiel mit dem bewegten Körper im Raum, mit stilisierten Kostümen und dem überraschenden Namen «Mummenschanz». Andres, Bernie und Floriana sind von diesem fantasievollen Wort fasziniert. Der Name für ihre Truppe ist gefunden.

Andres Bossard, Floriana Frassetto und Bernie Schürch (von links) um 1972.

«Mummenschanz» ist eine Verquickung zweier Ausdrücke: «Mummen» ist eine Kurzform von vermummen, verhüllen, verkleiden. Das zweite Element «schanz» ist vom französischen «chance» hergeleitet. Die Verbindung der beiden Ausdrücke bezeichnet ein im Mittelalter zur Fastenzeit gespieltes Würfel-Kartenspiel, dessen Spieler ihre Gesichter hinter Holzmasken verbergen, um nicht erkannt zu werden oder um sich nicht dem Gegner durch ihr Minenspiel zu verraten. Auch vermummten sich die Söldner früherer Jahrhunderte bei ihrem Glücksspiel vor Aufbruch in eine unbekannte Zukunft, um nicht zu sehen, in welche Richtung der Würfel fällt.

Mummenschanz in der Ostschweiz

17./18. Januar, Theater St.Gallen
23. Januar, Saal am Lindaplatz Schaan
26. März, Tonhalle Wil
30. April, Stadttheater Schaffhausen

«50 Years» ist bis Ende Juni in der Schweiz auf Tournee, danach in Europa, ab Herbst 2022 in den USA und in Asien.

mummenschanz.com

Das Programm «50 Years» bringt Repertoire-Klassiker neben neuen Stücken. Wie finden Sie es, und was sind Ihre liebsten Figuren?

Die Premiere hat ja erst im Dezember 2021 in Zürich stattgefunden. Trotz Corona bei vollem Haus. Man hat gespürt, wie tief Mummenschanz im Publikum verankert ist. Für viele Besucher war es ein lang ersehntes Wiedersehen mit Bekannten und Freunden. Highlights sind für mich Big Eyes, Hoodies – die Nummer mit vier eifrig tippenden Handy-, Game- und Selfie-süchtigen Internet-Zombies –, dann Viola & Violin oder die surreale Nummer mit den Toilettenpapierrollen.

Man kann also sagen: Auch nach 50 Jahren ist Mummenschanz – mit neuen Kräften – weiterhin unterwegs?

Ja. Das schöpferische Potenzial, das in jeder und jedem von uns als Kreativität und Innovationsfreude verborgen ist, setzt eine besondere Form des Querdenkens voraus. Die Figuren von Mummenschanz leben dies vor.