«Das Bürgerrecht darf kein Privileg mehr sein»

Die Aktion Vierviertel fordert ein Recht auf Einbürgerung. Initiator und Präsident Arbër Bullakaj erklärt, warum es dieses Update der Demokratie braucht.
Von  Corinne Riedener
«Es kann nicht sein, dass jemand 40 Jahre hier gearbeitet, die AHV mitfinanziert hat und jetzt ausgeschafft wird», sagt Arber Bullakaj. (Bilder: Sara Spirig)

Saiten: Was ist das Ziel der Aktion Vierviertel?

Arbër Bullakaj: Wir wollen einen demokratischen Paradigmenwechsel. Das Bürgerrecht darf kein Privileg mehr sein, es ist ein Grundrecht, für alle Menschen, die in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben. International rühmen wir uns immer mit unserer angeblich «besten Demokratie der Welt», aber faktisch gesehen haben wir demokratiepolitisch ein grosses Defizit. 26 Prozent aller Menschen, die in der Schweiz leben, also rund ein Viertel, sind ausgeschlossen. Man erwartet von ihnen, dass sie ruhig sind, ihre Pflicht tun und sich quasi als Menschen zweiter Klasse unterordnen. Das wollen wir ändern.

Auch du hast dich vor 15 Jahren einbürgern lassen.

«Einbürgern lassen» ist gut – ich musste mich als «würdig» erweisen und vor sieben Autoritätspersonen Red und Antwort stehen! Man muss «gut genug» sein, um Schweizer werden zu dürfen. Dieser Prozess ist völlig absurd: Man führt ein Bewerbungsgespräch, wie wenn man sich auf einen Job bewirbt. Nur dass man dafür bezahlt. Und damit sind nicht die Steuern oder die AHV-Beiträge gemeint, die man ohnehin zahlt, sondern die Einbürgerungsgebühren…

Arbër Bullakaj, 1986, ist selbständiger Unternehmer, hat den Verein Fair Wil gegründet und sass von 2012 bis 2020 für die SP im Wiler Stadtparlament. Wird er im Herbst nach Bern gewählt, wäre er der erste Nationalrat mit kosovarischen Wurzeln.

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…plusminus 5000 Franken.

Das hängt von der Gemeinde ab, aber ja, in etwa. Für mich war dieser Prozess nicht so problematisch, weil ich das Glück habe, eine höhere Schulbildung genossen zu haben und weil ich mich in Wil und nicht in Oberriet oder einer anderen konservativen Gemeinde ums Bürgerrecht «beworben» habe. Ich war damals etwa 19. Als ich vor der Tür auf das Gespräch wartete, traf ich zwei 15-Jährige, mit denen ich früher Fussball gespielt hatte. Sie waren völlig verängstigt von diesem Einbürgerungsgremium und fühlten sich wie vor einem Verhör. Ihre grösste Angst war, dass sie als «unwürdig» abgestempelt werden könnten. Dabei ist es doch völlig naiv, wenn nicht sogar anmassend, zu glauben, dass man mit einem Gespräch und teils völlig willkürlichen Fragen beurteilen kann, ob jemand das Bürgerrecht erhält oder nicht.

Oder man muss Glück haben in der Geburtslotterie. Woher kommt diese Idee, dass man sich ein Bürgerrecht «verdienen» kann bzw. muss?

Vor 100 Jahren war die Einbürgerung noch der Start zur sogenannten Integration. Zeitweise verlangte man Masseneinbürgerungen und wollte sogar das Ius soli einführen, also die Staatsangehörigkeit nach Geburtsort. Mit der rechten Politik von James Schwarzenbach in den 60er- und 70er-Jahren und seinem Nachfolger Christoph Blocher ab den 90er-Jahren wurde das Bürgerrecht umgedeutet und nationalistisch aufgeladen. Plötzlich sollten die einzelnen Gemeinden entscheiden, ob jemand sogenannt integriert ist bzw. sich das Bürgerrecht verdient hat. Dieses Narrativ der lokalen Integration wurde bis weit in die Mitte und sogar darüber hinaus geschluckt. Wie oft höre ich: «Arbër, du bist eben einer von den Guten, du bist integriert.» Ja, was soll denn das heissen? Was heisst überhaupt integriert, und wer bestimmt, wer integriert ist und wer nicht? Gibt es dafür ein Geheimrezept, eine exemplarische Vorlage? Ist zum Beispiel ein St.Galler, der ins Tessin zieht, dort integrierter als ein Mensch, der seit über fünf Jahren dort lebt und keinen Schweizer Pass hat? Der eine kann gleich wählen und abstimmen, der andere muss zuerst lange warten und sich dann einem Test-Parcours unterziehen.

Zwei Millionen Menschen in der Schweiz haben keinen Schweizer Pass. Die Aktion Vierviertel fordert ein Grundrecht auf Einbürgerung nach fünf Jahren, unabhängig von Aufenthaltsstatus und Einkommenssituation. Veraltete, unsachliche und willkürliche Kriterien im Verfahren sollen abgeschafft werden, ebenso kantonale und kommunale Wohnsitzfristen. Wer in der Schweiz geboren wird, soll automatisch den Pass erhalten. Das Manifest von Vierviertel wurde von Persönlichkeiten aus der ganzen Schweiz unterschrieben, unter anderem vom Schweizermacher Rolf Lyssy.

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Vierviertel zielt nicht nur auf die politische Mitsprache ab. Es geht euch um mehr.

Die Pandemie hat – einmal mehr – exemplarisch gezeigt, wie gefährlich es für Menschen in diesem Land ist, keinen Schweizer Pass zu haben. Ehemalige Saisonniers zum Beispiel, die nur eine Niederlassungsbewilligung haben, können zurückgestuft werden, wenn sie Sozialhilfe beantragen müssen, weil sie den Job verloren haben. Menschen mussten in Genf oder Zürich für Essenspakete anstehen, weil einige Angst hatten, Sozialhilfe zu beantragen und dann eventuell den Aufenthaltsstatus zu verlieren. Solche Schicksalsschläge sind verheerend. Es kann doch nicht sein, dass jemand 40 Jahre hier gearbeitet, die AHV mitfinanziert hat und jetzt ausgeschafft wird. Darum geht es uns auch um Sicherheit und Anerkennung. Das Bürgerrecht ist der einzige Weg, hier als vollwertige:r Bürger:in anerkannt zu werden – Ausländer:innenstimmrecht hin oder her. Das ist maximal eine kurzfristige Übergangslösung. Denn es minimiert nicht das Risiko, aussortiert und diskriminiert zu werden.

Ihr strebt eine «lebendige, moderne Demokratie» an. Stand jetzt ist sie vor allem überaltert. Wäre es nicht konsequent, auch gleich das Stimmrechtsalter 16 zu fordern?

Es gibt viele Baustellen in unserer Demokratie. Unsere Initiative zielt auf die grösste ab. Aber ja, selbstverständlich müssen auch die Jungen mehr miteinbezogen werden.

Wie überzeugt ihr all jene, die sagen: «Aber man kann sich ja schon jetzt einbürgern lassen»?

Das kann man schon, aber es ist ein endloser Hürdenlauf und ein entwürdigendes Verfahren. Zudem kommt es zu Diskriminierungen und Willkür. Im besten Fall lebt man schon jahrelang in einer weltoffenen Gemeinde, hat etwa 5000 Franken übrig und einen gutbezahlten Arbeitsplatz. Aber diese Voraussetzungen haben nicht alle. Mergim Ahmeti zum Beispiel, der in Oberriet geboren ist, hat vier Jahre lang kämpfen müssen, weil ihm der Einbürgerungsrat das Bürgerrecht verwehren wollte aufgrund «ungenügender lokaler Integration». Am Schluss hat das Gericht zu Ahmetis Gunsten entschieden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es kann einfach nicht sein, dass man in diesem Land so um sein Recht kämpfen muss und das noch ein Vermögen kostet. In anderen Ländern kostet eine Einbürgerung nur wenige 100 Euro und wird im Schnellverfahren abgewickelt.

Es geht auf den Wahlherbst zu und die SVP will sich einmal mehr mit dem Thema «Zuwanderung» ins Gespräch bringen. Profitiert ihr davon bei eurer Kampagnenarbeit oder ist es eher hinderlich?

Diese rassistische Hetze ist für uns irrelevant. Wir wollen ein Gegennarrativ setzen, denn «Ausländer:innen» sind ein wichtiger Teil unserer Bevölkerungsrealität. Die SVP will nicht die Einwanderung begrenzen, sondern die Eingewanderten entrechten, siehe Saisonnierstatut. Die Leute sollen arbeiten, aber möglichst keine Rechte haben, damit man mit ihnen umgehen kann, wie man will und sie ausbeuten kann. Dabei leugnen sie, dass die Schweiz nicht trotz, sondern wegen den Ausländer:innen so wohlhabend ist. Diese eingangs erwähnten 26 Prozent ohne Pass leisten nämlich, gemessen an den Arbeitsstunden, 35 Prozent der Arbeit in diesem Land und finanzieren die Sozialwerke und Renten mit. Warum wird diese Geschichte nie erzählt?

Wie steht es eigentlich um den Rückhalt der liberalen Parteien? Ein leicht zugängliches und schlankes Einbürgerungsverfahren müsste doch auch in ihrem Sinn sein.

Das ist so. Auch im Sinne der Eigenverantwortung, die sie so gerne hochhalten. Wer tatsächlich liberal und nicht nur wirtschaftsliberal tickt, wird uns unterstützen. Mal sehen, ob die liberalen Kräfte ihrem Namen gerecht werden.

Bis jetzt sind vergleichbare Vorstösse auf parlamentarischer Ebene gescheitert. Warum glaubt ihr, dass es mit dieser Initiative klappt?

Weil wir aus der Basis heraus entstanden sind. Wir wissen, dass der parlamentarische Weg versperrt ist, auch der jüngste Versuch von Paul Rechsteiner und anderen mit dem Ius soli ist gescheitert. Das Parlament hinkt der Bevölkerungsrealität einfach 50 Jahre hinterher. Es ist nicht der Ort, um die Einbürgerungspolitik zu ändern, darum muss der grosse Wurf aus der Bevölkerung kommen. Wir müssen eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung aufbauen – wie vor 50 Jahren beim Frauenstimmrecht. Die Verhältnisse sind nämlich ähnlich wie damals: Über 50 Prozent der Schweizer Haushalte haben eine Migrationsgeschichte.