Das Buch vom Schwarz

Anna Stern hat 2020 den Schweizer Buchpreis gewonnen. Mit ihrem neuen Buch «blau der wind, schwarz die nacht.» geht sie einen Schritt weiter: Formal ambitioniert fügt sie Geschichten von äusseren und inneren Ausnahmezuständen zu einem düsteren Bild zusammen.

Von  Eva Bachmann

Schwarz. Obsidianschwarz, gagatschwarz, zitadellenfensterschwarz. Schwarz ist die Abwesenheit des Lichts in der Welt. Schwarz sind die Wolken in Alvas Kopf. Ihr schwarzes Notizbuch trägt sie immer bei sich und schreibt, um sich an der Welt festzuhalten: «wenn es nichts mehr gibt, gibt es immer noch: gibt wind und blau und nacht und schwarz.» Ja, der Wind ist blau in diesem Buch, auch der Himmel ist blau, aber schon das Wasser ist manchmal blau und manchmal schwarz.

Man könnte sich ans Farbkonzept halten, um dieses Buch zu beschreiben. Das Weiss des Nebels und das Blau des Himmels sind mit der Natur assoziiert. Das Rot mit Lava, Wut und Blut; «rot ist das letzte, was sichtbar vor dem schwarz». Das vorherrschende Schwarz mit Abwesenheit, Leblosigkeit, Tod. Verschwunden und gestorben wird viel in diesem Buch, dem sechsten von Anna Stern. Sie ist 1990 in Rorschach geboren, doktorierte an der ETH Zürich  und lebt zurzeit in Finnland. blau der wind, schwarz die nacht. ist ihr bisher radikalstes Buch. Auf eine Bezeichnung wie «Roman» hat sie verzichtet, und überhaupt verliert man in diesem Text leicht die Orientierung.

Ein Rhizom von Geschichten

Alva, die Dünnhäutige, die Grenzen zwischen sich und der Umwelt verschiebt, ist eine wiederkehrende Figur. Ebenso Hannah, die Psychiaterin, Mitte 30, die Alva gegen alle Professionalität aus der Klinik zu sich nach Hause nimmt und damit bisherige Gewissheiten ins Wanken bringt. Die anderen Kapitel sind jeweils mit einem Namen überschrieben. Die zahlreichen Figuren und ihre Geschichten berühren sich alle irgendwann und wachsen so untergründig zu einem Netz zusammen.

Anna Stern: blau der wind, schwarz die nacht. Lectorbooks, Zürich 2023.

Die Geschichten handeln von Krisen wie Krieg, Covid und Klima. Anna Stern ist Naturwissenschaftlerin, die zu berichten weiss von den einst 700 Schneckenarten auf Hawaii, die nun von der eingeschleppten Euglandina rosea «mit ihren langen labialpalpen, mit ihrer ausfahrbaren, karnivoren radula» verschlungen werden. Oder sie erzählt, wie Hitze und Trockenheit im Folgejahr zu Totholz in den Buchenkronen führen. Man folgt ihr beim Lesen gern in ihr Fachgebiet, freut sich über die ungewöhnlichen Wörter und nimmt ihr auch die Bedrohlichkeit der Umweltzerstörung ab.

Mehr und mehr verschieben sich die Bruchlinien jedoch auch in die menschlichen Beziehungen hinein. In ihrem letzten Buch das alles hier, jetzt (2020) bildeten Familie und Freundschaft noch einen tragenden Boden durch Krisen hindurch. Nun aber brechen Paarbeziehungen auseinander, wird die Kommunikation zunehmend schwierig, und Menschen verschwinden, verbarrikadieren sich im Keller, versorgen sich in der Psychiatrie. Lukas zum Beispiel reist nach einer weiteren Enttäuschung durch einen abgesagten Kinder-Termin einfach ab und fällt in Alaska als Mann ohne Namen vom Himmel.

Keine Angst vor literarischen Wagnissen

Anna Stern hat schon in früheren Büchern mit Erzählformen experimentiert. Sie montierte Lieder und Fotos in die Texte oder verteilte zwei Erzählstränge jeweils auf die linke und rechte Buchseite. Das Komponieren eines Buchs von immerhin 339 Seiten aus einer Reihe geheimnisvoll vernetzter Geschichten ist nun noch einmal eine neue Spielart. Beim Lesen muss man sich darauf einlassen, dass nicht alle Verbindungsfäden offen daliegen – man versteht trotzdem genug.

Noch mehr als in den Vorgängertexten gilt Anna Sterns literarischer Gestaltungswille auch der Sprache. Über die durchgehende Kleinschreibung hinaus traut sie sich Wortkreationen wie «bittebittekönnenwir» oder gar «ichliebdichichhaltdichnichtausdrama». Sie scheut sich nicht, unfertige Gedanken als unfertige Sätze hinzuschreiben und im nächsten Satz den stammelnden Anfang weiterzuentwickeln. Andererseits gibt es auch Sätze, die über 20 Zeilen laufen, einfach weil das Denken galoppiert.

Erneut nutzt Anna Stern das Mittel der Montage, indem sie zum Beispiel seitenlang dem Chat einer Livecam folgt, die fischende Bären filmt. Oder sie schiebt eine parodistische Erzählung über die Behebung des Dichtestresses in heimischen Schwimmbädern durch einen Schwimmrechtsausweis ein. Den unterschiedlichen Figuren schreibt Stern eigene Stimmen und Tonlagen zu. Der Waldmensch Florentin beobachtet «das grüngraue geschlurp im bachbett» und Weidekätzchen, die «frotzlig von der nässe» sind. Der Verwalter Peter hingegen sortiert die «kackhaufen» des ablaufenden «kackjahrs».

Anna Stern hat sich mit blau der wind, schwarz die nacht. radikalisiert. Als Schriftstellerin, indem sie kompositorisch und sprachlich staunenswert ideenreich ans Werk geht. Aber auch thematisch, indem die fortschreitende Zerstörung der Umwelt sich spiegelt in den Ängsten der Menschen und ihrer Unfähigkeit, miteinander zu leben. Damit kippt das Ganze in ein düsteres Schwarz, die finale Katastrophe erscheint zwangsläufig. Aber wir waren gewarnt, schon mit den ersten Sätzen dieses Buchs: «man hat es ja gewusst. eigentlich. hat gewusst, dass es irgendwann so kommen wird.»