Dans-Boek 9: Der leere Raum

Schauspielerin Jeanne Devos kehrt nach acht Wochen als Artist in Residence aus Brüssel in die Schweiz zurück. Mit einem nicht nur sprichwörtlich weinenden Auge. Hier der vorläufig letzte Beitrag ihres Wochen-Tagebuchs.
Von  Gastbeitrag

Carving your own body speech 1

Der Tag davor:

Es ist ruhig um mich herum. Kein Wecker. Kein Tanzen. Ein wenig fühlt es sich an wie ein gewöhnlicher Samstag. Aber es ist Mittwoch und für mich alles andere als ein gewöhnlicher Tag in Brüssel, denn morgen fahre ich nach acht Wochen Aufenthalt wieder zurück in die Schweiz. Nach Kaffee und Internet mache ich mich auf den Weg für die letzten Einkäufe. Pralinen als Mitbringsel für Familie und Freunde, Bioladen für mich. Seit einigen Wochen bin ich dort Mitglied. Ob mir mein Guthaben in einem Jahr noch angerechnet wird?

Der Tag bringt nichts Aufregendes mit sich: packen, putzen, Text lernen. Schon krass, wie eine von Dauereuphorie beseelte Zeit so ausplätschern kann! Der Tanzraum ist leer, und gegen Abend fühlt sich der Körper vor lauter Sich-Nicht-Bewegen ziemlich unausgelastet an.

21 Uhr: das letzte belgische EM-Spiel in der Vorrunde. Fantastische Stimmung in der Kneipe! «Und diä chönd secklä, diä chogä Belgier!» Sieg! Wir sind im Achtelfinal (und, Nachtrag: inzwischen schon einen Riesenschritt weiter Richtung Final).

Tag der Abreise:

Ich erwache in der Morgendämmerung. Weiterschlafen geht nicht. Der Kopf dreht sich in Spiralen um die letzten Wochen. Das ist die süsse Rache der Erinnerung.

Auf dem Weg zum Gare de Midi fluche ich heimlich über mich selbst. Das Gepäck war schon bei der Hinfahrt ziemlich schwer. Warum musste ich unbedingt noch diese sechs Flaschen Bier einpacken!!!

Jetzt heisst es sieben Stunden Zugfahrt. Irgendwie habe ich sogar Lust darauf, denn im Zug kann man schön und wild durcheinander denken.

Aufenthalt in Frankfurt. Ich trinke einen Eiskaffee und rufe mir dabei das herrliche Wochenende mit Julia ins Gedächtnis.

Später bei der Einfahrt in die Schweiz kommen unerwartet ein paar Tränchen. Sie schmecken etwas kitschig – aber das macht nichts.

Zuhause angekommen wartet Catriona. Sie empfängt mich warm und herzlich. Es ist gut, jetzt nicht allein zu sein.

Der Tag danach:

Was soll ich sagen? Ich habe die Zeit in Brüssel in den Koffer gepackt und trage diesen nun weiter in die Hörspielaufnahmen und auf die kommenden Probenin St.Gallen. Ich bin froh, dass ich den Schritt nach Brüssel gewagt habe. Zu bewahren, was man weiss und kann, scheint mir eine notwendige Aufgabe zu sein. Allerdings nicht genug. Mein Abenteuer war eine Idee ins Unerwartete und Unerreichte. Das macht mich kühn, gegenwärtig und sehr, sehr froh.

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Jeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Ihr «Dans-Boek» aus Brüssel, wo sie mit einem Artist-in-Residence-Stipendium von Appenzell Ausserrhoden Tanz studierte, erschien seit Anfang Mai auf saiten.ch.