Dans-Boek 8: Gelebte Anarchie

Schauspielerin Jeanne Devos ist seit Anfang Mai als Artist in Residence in Brüssel. In Woche acht ihres Tagebuchs für Saiten geht es zur Sache, körperlich und kulinarisch.
Von  Gastbeitrag

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Ich gestehe: Ich habe mich schon mal selber gegoogelt. Nicht dass ich mir einbilden würde, ich sei ausgesprochen berühmt. Dennoch konnte ich mir bislang nicht vorstellen, dass viele Frauen mit meinem Namen im Internet vertreten sind. Viele sind es auch nicht. Aber eine Jeanne Devos ist richtig berühmt – und zwar eine ältere Dame aus Belgien.

Dem flämischen Wikipedia-Eintrag konnte ich entnehmen, dass die 1935 geborene Klosterschwester sich vor allem durch ihren Einsatz gegen die Armut in Indien einen Namen gemacht hat und 2005 sogar für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Meiner Namensvetterin hinterher zu forschen, wäre sicherlich eine lohnende Beschäftigung fürs Wochenende.

Quälen und wühlen

Da kommt mir allerdings mein Münchnerleben in die Quere. Dieses hat sich nämlich für einen zweiten Besuch angemeldet und reist diesmal nicht mit dem Zug, sondern mit dem Auto an. Denn das Münchnerleben hat eine ausgesprochene Freude an schönen Dingen, und beim letzten Besuch zwischen Theater und Essen prompt einen Sessel und eine Lampe entdeckt. Brüssel ist also nicht nur Schokolade und Bier. Brüssel ist neben vielem anderen auch eine Hochburg für Vintage. Man kann sich hier Tage damit beschäftigen, über Flohmärkte zu schlendern und in Secondhand- oder Antiquitätsläden zu wühlen.

Bevor ich Besuch bekomme, muss ich mich bewegen. Diese Woche wird das morgendliche Training von einer Tänzerin der Needcompany gegeben und gestaltet sich für mich zu Beginn äusserst schwierig. Denn mehr als zwei Stunden Choreographie ohne jegliche Möglichkeit zur Improvisation überfordert meinen Körper und Geist. Doch Tijen Lawton ermuntert mich weiterzumachen, und da Aufgeben ja wirklich das Letzte ist, quäle ich mich jeden Morgen aufs Neue durch diese minutiös festgelegten Bewegungsabläufe. Und wirklich werde ich von Tag zu Tag besser, bis sich irgendwann sogar so etwas wie Glücksgefühle einstellen.

Dennoch freue ich mich wie ein Schulkind, dass ich zwecks Besuchs-Bespassung am Freitag schwänzen darf. Ich habe nämlich wieder Tage zuvor begonnen, mir über das Nahrungs- und Kulturprogramm Gedanken zu machen.

Doch erst einmal kaufen wir Lampe und Sessel. Das klappt wunderbar, die Einheimischen sagen uns, wo wir parken können, ohne abgeschleppt zu werden – Brüssel ist auch ein Ort der gelebten Anarchie gegen die Obrigkeit. Zur Belohnung beschaffen wir uns bei einem sehr speziellen Metzger phantastische Würste. Die sind auch notwendig als Stärkung, denn danach geht’s zu einer Performance in einer sehr zugigen, halbverlassenen U-Bahn-Station. Dort zeigt Anouk Friedli die Abschlussarbeit ihres Regiestudiums in Brüssel. Die ganze Schweizer Grossfamilie reist dazu an, und nach ein paar Bieren helfen auch Oma und Tante beim Zusammenlegen der Kabel.

Blutwurst am Strand

Nächster Tag: Meer! Der Strand- und Urlaubsort Ostende wartet noch immer auf die Hauptsaison. Brügge bei Regen ist da schon besser. Man kann von einem Schokoladenladen in den nächsten flüchten und später in einer urigen Kneipe wieder eine schöne Blutwurst essen. Die Dornröschenstadt hat aber auch abgesehen vom Essen einen grossen Zauber. Auch wenn eine Horde von betrunkenen Fussballfans gerade den 3:0 Sieg der Belgier feiern.

Denn natürlich ist das Fussballfieber längst auch hier in Brüssel eingekehrt. Da ich keinen Fernseher zur Verfügung habe, schaue ich mir die Spiele meiner Mannschaften (Schweiz / Deutschland / Belgien) in der flämischen Kneipe ums Eck an. Oft sitze ich dann alleine zwischen den ganzen Flamen, starre auf die Leinwand und trinke mein Bier.

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Jeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Sie berichtet auf saiten.ch bis zum Sommer im Tagebuch «Dans-Boek» aus Brüssel.