Dans-Boek 7: Realitätsversüssung
Ich komme morgens meistens eine halbe Stunde vor Beginn des Trainings ins Tanzstudio. Und oft bin ich dann nicht die erste. Tänzer sind nämlich pünktlich – zumindest wenn es ums Tanzen geht. Wir putzen gemeinsam die Bühne, reden ein wenig über dies und das und wärmen uns auf. Die Einfachheit dieses Tagesabschnitts schätze ich sehr.
Für eine andere Sache habe ich allerdings nach wie vor keine Lösung: nämlich was das eigene Putzen angeht. Soll ich mich vor oder nach dem Tanzen, oder sogar zweimal pro Tag waschen? Dies scheint eine lächerliche Angelegenheit zu sein, beschäftigt mich aber jeden Tag aufs Neue.
Raus aus den Mustern
Denn diese Woche wird wieder richtig getanzt. Aber was bedeutet tanzen? Und was ist schon richtig? Ich mache gerade einen Workshop, der sich mit sehr kleinen, feinen Bewegungen beschäftigt, welche das Hirn und Nervensystem ankurbeln sollen. Das Training ist nicht unbedingt schweisstreibend, was sich positiv auf mein Waschproblem auswirkt. Dagegen wird meine Geduld und Konzentrationsfähigkeit bis aufs Äusserste beansprucht. Feldenkrais kenne ich noch von der Schauspielschule, und ich war vermutlich die einzige in der Klasse, die daran Freude hatte. Wenn meine Kollegen montags um 9 Uhr überhaupt zum Unterricht kamen, schliefen sie entweder ein oder kriegten schlechte Laune.
Zum Verständnis: Feldenkrais versucht Systeme zu kreieren, in denen man neue Möglichkeiten von Bewegungen ausprobieren kann. Oder einfacher gesagt: Versuche den simpelsten Weg einer Bewegung zu wählen, ohne dabei einem Automatismus zu verfallen! Das klingt einfach – ist es aber nicht! Für Babys und Kinder scheint dieses organische Lernen kein Problem zu sein. Erwachsene jedoch tun sich schwer damit, aus ihren gewohnten und meist auch ungesunden Bewegungsmuster wieder auszubrechen.
Und so fühle ich mich nach dieser Woche ziemlich müde und abgekämpft. Überdies beschäftigt mich seit ein paar Tagen der Gedanke, dass meine Freiheit hier in Brüssel bald ein Ende haben wird. In knapp zwei Wochen muss ich wieder zurück in die Schweiz. Zurück ins alltägliche Theater-Karussell. Dass ich bereits wieder Text lernen, mich um bevorstehende Termine und mögliche Arbeitsbeziehungen kümmern sollte, macht mich mürrisch und eng.
Ab an den Stadtrand
Einziges Mittel gegen die aufkommende Schwermut: Ich kaufe bei meinem Lieblings-Chocolatier Frederic Blondeel eine Packung Pralinen, setzte mich damit in die Metro und fahre an den Stadtrand von Brüssel. Dort lebt Isabelle mit ihrem Freund und seinen drei Kindern in einem süssen Häuschen mit Garten. Isabelle ist auch Schweizerin, auch Schauspielerin, und wegen der Liebe hierher gezogen. Es gibt Spargel, Bier und ein offenes Feuer, um welches wir noch bis in die späten Abendstunden sitzen. Etwa um Mitternacht breche ich auf.
Nachts alleine auf die Metro zu warten fühlt sich irgendwie beklemmend an. Überhaupt ist die Metro der einzige Ort in Brüssel wo ich mich zuweilen unwohl fühle. Natürlich hat das mit den Anschlägen vor ein paar Monaten zu tun. Die Fernsehbilder davon sind in meinem Kopf verankert. Deshalb verstehe ich auch die Sorgen meiner Angehörigen, als ich mich im April entschieden hatte, für zwei Monate nach Brüssel zu ziehen. Denn sie haben Brüssel nicht mit ihren eigenen Augen erfahren. Oder wohl mit eigenen Augen, doch nicht an Ort und Stelle. Wir alle sind Fernseher, Fernhörer und Fernwisser.
Apropos: Sich an einem verregneten Sonntagnachmittag in einem alten Kino in den «Galeries Royaeles Saint-Hubert» den neuesten Woody Allen-Film anzuschauen, ist eine andere, wunderbare Möglichkeit, der Realität für 90 Minuten zu entschwinden.
Jeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Sie berichtet auf saiten.ch bis zum Sommer im Tagebuch «Dans-Boek» aus Brüssel.