Dans-Boek 5: Mehr als «interessant»
Es ist Halbzeit – und ich habe einen kleinen Blues. Nicht etwa, weil meine Begeisterung für Brüssel nachgelassen hätte. Nein, die Stadt sitzt noch immer steif und fest auf dem Thron meiner Entzückung!
Jedoch ist gestern das Kunstenfestival zu Ende gegangen, und die Theaterfanatiker aus aller Welt sind wieder nach Hause oder sonst wohin abgereist. Das passt mir gar nicht! Ich hätte gerne und gut noch ein Weilchen so weitermachen können. Auch kommt nun die erste Woche auf mich zu, in der ich abgesehen von ein paar Morning Classes und einer Studioaufnahme fürs Schweizer Radio nicht wirklich was geplant habe.
Wahrscheinlich ist dieses kurze Innehalten sogar gut. Aber Blau zu machen gehörte noch nie zu meinen Stärken. Andererseits habe ich auch keine Lust, mich an dem touristischen Angebot abzuarbeiten. Gott sei Dank habe ich noch die iranischen Raubkopien auf meinem Computer.
Apropos Iran: Mitte der Woche habe ich beim Festival endlich die Inszenierung von Amir Reza Koohestani sehen können. Der Theaterabend zeigte genau das auf, woran wir im Workshop zehn Tage lang geforscht hatten. Das war sehr spannend und beglückend.
Am Anfang: die Emotion
Abgesehen vom abendlichen Kunstenfestival-Programm habe ich diese Woche wieder getanzt. «Carving your own body speech» hiess der Workshop, den ich bei einer Tänzerin der Compagnie Les Ballets C da la B besucht habe. Von eben dieser aus Gent stammenden Gruppe habe ich 2008 an der Gessnerallee in Zürich eine Adaption von Bachs Matthäuspassion gesehen. Ein virtuoser und schonungsloser Abend, der mich gleichermassen begeistert und verstört hat. Wer hätte damals gedacht, dass ich acht Jahre später die Arbeitsweise, mit der Les Ballets C de la B ihre Theaterarbeiten kreiert, kennenlernen würde.
Diese ist nämlich in der Tat speziell: Der Choreograph Alain Platel und seine Tänzer gehen von einem emotionalen Zustand aus. Erst daraus entwickelt sich die Bewegung oder der Tanz. Praktisch sieht das dann so aus, dass mit sehr konkreten Vorgaben stundenlang improvisiert wird. Das daraus entstandene Material wird gesichtet und dann erst zu einer Choreographie zusammengesetzt.
Mir als Schauspielerin kommt dieses Prinzip extrem zugute. Und so bewege ich mich fünf Tage lang auf einer fantastischen Spielwiese, die mir ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet. Ich habe nach dieser Woche wirklich das Gefühl, eine Methodik in den Händen zu halten, die ich auch in kommenden Arbeiten anwenden kann.
Nichts für Geschmacksneutrale
Zum Schluss aber noch einmal das Kunstenfestival: Ich habe insgesamt neun Inszenierungen gesehen. Die Hälfte davon hat mich begeistert, mit der anderen Hälfte konnte ich gar nichts anfangen. Das ist aber nicht schlimm. Denn starke Zugriffe polarisieren nun mal. Und es freut mich sogar ausserordentlich, dass man hier den alles vernichtenden, geschmacksneutralen Satz: «Isch no interessant gsi!» nicht anwenden kann.
Mein Geheimtip: Falls Ihnen die aus Brüssel stammende Performerin Miet Warlop oder die Gruppe BERLIN aus Antwerpen über den Weg laufen sollte, rennen Sie nicht weg, sondern schauen Sie sich das an.
Jeanne Devos, in Heiden aufgewachsen, hat Schauspiel in Bern und Zürich studiert, war 2010-2013 am Deutschen Nationaltheater Weimar engagiert und ist seither als freischaffende Schauspielerin tätig. In «Hamlet», der Eröffnungspremiere der Spielzeit 2016/17, wird sie als Gast am Theater St.Gallen zu sehen sein. Sie berichtet auf saiten.ch bis zum Sommer im Tagebuch «Dans-Boek» aus Brüssel.