, 6. März 2018
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Danke, König Winter

Eine Reportage aus dem Waldkindergarten.

DIe Waldbasisstufe der Waldkinder St.Gallen, Notkersegg. (Bild: Claudio Bucher)

«Legt euch auf den Rücken, macht einen kleinen Schneeball und legt ihn euch auf den Mund. Was fällt euch auf?»

Ein Februardienstag, Notkersegg im Wald, 26 Kinder zwischen vier und neun liegen auf dem Rücken und bemerken, wie sich schmelzender Schnee anfühlt. «Warm wird es», bemerkt einer. «Schnee kann also auch warm sein», sagt Livia Herzog, Kindergärtnerin und angehende Naturpädagogin. «Was ist heute sonst noch anders als gestern?» – «Die Sonne steht höher als auch schon» – «Sehr gut», sagt Herzog.

Manche der Kinder, die heute ihren Bob mitgebracht haben, sind seit der Spielgruppe bei den Waldkindern St.Gallen. Bis zum Ende der Basisstufe –Kindergarten und die ersten zwei Primarschuljahre – verbringen sie so fünf Jahre ihrer Kindheit mit denselben Kindern. Sie wachsen nicht nur gemeinsam auf, sie erleben auch, wie sich der Wald im Jahreszyklus verändert und wie bei aller Veränderung draussen – weit weg vom Wald – auf den Lauf der Dinge Verlass ist. Vier Frühlinge, beobachtet durch eine gezielt geschulte Wahrnehmung. Vier Winter, erforscht durch gefallene Äste, Krokusse, die durch den Schnee wachsen und übersetzt in eigene Eiskunstwerke an Baumstämmen. Das sind die Post-Millenial-Waldkids, jünger als das iPhone: Kinder mit Swiss Bobs («die schnellschte!»), Jack-Wolfskin-Outdoor-Schuhen, umfunktionierten Militärrucksäcken und selbstglismeten Wollmützen. Kinder, die durch den Wald rufen: «Danke, König Winter».

Caro Knoepfel, ausgebildete Primarlehrerin, hat den König Winter schon 14-mal gemeinsam mit den Waldkindern erlebt. Sie arbeitet schon so lange im Wald, dass sie Ehemaligen im Ausgang begegnet. «Gut herausgekommen sind sie alle», sagt sie. Inmitten der herumrennenden Kinder – Stillsitzen wie in Hausschulen gibt es kaum – bewegt sie sich ruhig, gelassen. Am Abend stellt sie ihr Handy ab («auch wegen den Anrufen der Eltern»), zum Znüni isst sie Käsebrot und Feigen.

Knoepfel weist die Kinder auch schon mal zurecht, oder reisst einem Kind mit Wucht einen Holzstock aus der Hand, mit dem dieses zuvor ein anderes geschlagen hat (eine Ausnahme an diesem Morgen). Chaos gibt es trotz aller (Bewegungs-)Freiheit nicht. Wenn es mal Streit gibt, vermittelt sie: «Leo findet es nicht nett, wenn du ihm versprochen hast, dass du ihn mit dem Bob ziehst und dies nun trotzdem nicht tust.»

Doch Streit gibt es selten im Wald. Das ist auch der erfahrenen Kindergärtnerin aus Wil aufgefallen, die als Teil ihres genehmigten Bildungsurlaubs nach 15-jähriger Tätigkeit die Waldkinder besuchen kann. «Die Sozialkompetenz ist erstaunlich», stellte sie bereits am ersten Tag fest. Manche der erlebten Situationen seien im Hauskindergarten Garanten für Streit und Geschrei. Hier oben sei vieles anders. Weniger Wettbewerb, weniger Grüppchenbildung.

Den Kindern wird viel zugetraut: Sie sind nicht bloss Schüler, sondern Chefs und Chefinnen. Ein Einblick in die tägliche Morgenroutine: «Was sagt der Temperaturchef?» – «minus drei Grad» – «was sagt der Datumschef?» – «13. Februar 2018». Im Sommer gibt es zwei Küchenchefs, die das Menü gestalten, rüsten und beim Kochen helfen. Eigenverantwortung trifft auf spielerisches Lernen. Gelernt wird, ohne dass es einem bewusst wird. Das Zählen wird geübt, indem jedes Kind einen Schneeball in die Luft wirft und dabei die nächste Zahl ruft.

«Lernt man da überhaupt etwas?» erinnert sich Livia Herzog an eine Begegnung mit einem älteren Herrn in der Trogenerbahn. Aus den Primarschulen sind die Feedbacks – wie früher schon – positiv. Die Lernziele der ersten zwei Primarschulklassen sind identisch. Der Fokus wurde schon vor dem neuen Lehrplan auf die Herausbildung von Kompetenzen gerichtet.

Schaut man sich die Broschüren anderer Waldkindergärten an, werden oft empirische Studien herbeigezogen, man liest von Children-Centered-Learning, von ganzheitlichem Lernen und Erkenntnissen aus der (Pop-) Neuropsychologie.

Eine Versuchsanordnung, die die Wirkung der Naturpädagogik-Konzepte untersucht und dabei den Einfluss des Elternhauses mitberücksichtigt, ist schwierig durchzuführen. Man spricht von «bildungsfernen» Eltern. Bereits vor über zehn Jahren sagte Knoepfel zur NZZ: «Eltern aus sogenannt bildungsfremdem Milieu werden kaum Hunderte von Franken Schulgeld für ihre Sprösslinge zahlen wollen oder auch zahlen können.»

Eltern aus spezifischen sozialen Milieus, das Bildungsbürgertum, sind sensibler, wissen manchmal mehr über den Sinn und Nutzen von frühkindlicher Bildung. «Bildungsfern» lässt zusammenzucken, weil es eine Realität abbildet: eine Kluft, eine mögliche Beeinträchtigung der sozialen Mobilität bereits in der Kindheit, vererbter Status trotz gesellschaftlich angestrebter Chancengleichheit. Eine Mutter erzählt mir von ihren Bedenken: Wächst ihr Kind nur mit Privilegierten auf?

Zum Bildungshintergrund kommen nach wie vor die hohen Kosten: Im Kindergarten ist ein monatlicher Beitrag ab 525 Franken fällig. Knoepfel erzählt von Eltern, die wegen dem Waldkindergarten und der Waldschule auf ein Auto verzichten oder bei den Ferien sparen. Tiefere Kosten wären jedoch auch in ihrem Sinn. In Teufen hat letzten Sommer ein öffentlicher Volks-Waldkindergarten geöffnet – zugänglich für alle. «Es ist gut, wenn Eltern die Wahl haben.» Viele Eltern seien jedoch gar nicht interessiert am Konzept der Naturpädagogik.

Die Zweitklässler bleiben heute bis am Nachmittag für den Unterricht im beheizten Bauwagen. Vor dem Znüni sind die zwei Gruppen – Kindergarten und Primarschule – getrennt. Die Älteren üben sich in der Improvisation: Ein Kind hängt an einer umgestürzten Tanne in der Luft, bewegt einen Arm gegen den Himmel.

«Was bin ich?»

«Ein Blatt, das im Frühling wächst.»

Ein Teil des Publikums isst Schnee.

Zuvor rannten die Kinder in alle Himmelsrichtungen, nachdem Knoepfel eine offenbar brennende Frage gestellt hatte: «Wie geht es unserer Knospe?». Jedes Kind hat eine Knospe, der Wald ist das Labor. Farbige Schnüre an Ästen kennzeichnen die Studienobjekte der fortlaufenden Versuchsanordnung. Nach dem Improvisationstheater wird der Unterricht regulärer: «Wie heisst der Frühling?» – «März, April,Mai, Frühling» wird mit Kreide auf kleine Tafeln geschrieben und die Ergebnisse – nach der Korrektur durch die Betreuung – in einen Schneehaufen gesteckt. Häufigster Fehler: das fehlende «h» im Frühling.

Wie in Regelschulen arbeiten die Kinder in verschiedenen Tempi. Wer fertig ist, schliesst sich der Einerkolonne an, die die Strecken für das Fangis im Schnee vorbereitet. Für Langsamere gibt es kein Nachsitzen: Erst als das letzte Kind Teil der Einerkolonne wird, geht das Rennen los. Zumindest am Morgen gibt es in der Notkersegg keine Fächer. Schreiben trifft auf Turnen trifft auf Naturkunde und Allgemeinwissen. Ein scheinbar unstruktiertes System, das sichtbar Spass macht. Darf Schule Spass machen?

Zum Znüni treffen sich alle 26 Kinder und die drei Betreuerinnen – zwei Fachkräfte und eine Praktikantin – im Kreis zum Kanon:

I ha Hunger
Min
Mage
knurret
Grauehaft

Ein Kind, das im Improvisationstheater eine Sonne gespielt hat, erzählt von seinem Lieblingsspielzeug, einem Akkubohrer, ein Weihnachtsgeschenk seines Grossvaters. «Andere Kinder haben halt ferngesteuerte Autos», sagt es mit Selbstverständlichkeit. Der Umgang mit Werkzeugen, auch gefährlicheren, wie Äxten oder Hammer, wird im Waldkindergarten gelehrt. Wann der richtige Zeitpunkt ist, entscheidet das Kind. «Das Kind kommt zu uns und sagt: ‹Ich bin bereit›», sagt Knoepfel. Übervorsicht wird mit Selbstermächtigung begegnet: Das Kind lernt, sich etwas zuzutrauen.

Der Umgang mit allfälligen Unfallrisiken ist nicht selbstverständlich. Naturpädagogin Knoepfel erzählt von einem Komitee aus Berlin, das die Waldkinder besuchte (in Deutschland gibt es mittlerweile über 1500Wald-KITAs). Das deutsche Waldpädagogik-Projekt sah sich einer Reihe von Regulierungen unterworfen: Seile – verboten («Strangulationsgefahr»), Sägen oder gar Feuer – verboten. Hier ist das anders. «Jedes Kind hat bei uns ein Sackmesser im Rucksack», sagt Knoepfel.

Der Amerikaner Richard Louv schreibt in seinem Standardwerk Last Child in the Woods über die Paranoia der Eltern, ausgelöst durch eine sensationsorientierte Medienkultur der Angst, die «Kinder direkt aus den Wäldern und Feldern gescheucht hat» und durch die allgemeine Rhetorik der Angst dazu geführt habe, dass fantasievolles Spiel in der Natur ersetzt wurde durch reglementierte Formen des Spiels und Sports – im Zeichen der Sicherheit.

Auch wenn die «Angst-vor-dem-wilden-Wald»-Rhetorik ein wenig fremdwirkt: Auch in St.Gallen konnte Knoepfel beobachten, was passieren kann, wenn Sicherheitsdenken und Kindergarten auf Wald treffen: Den Kindern eines städtischen Kindergartens, die gleichzeitig mit den Waldkindern auf dem Hang im Notkersegg spielten, wurde mit Absperrband abgesteckt und klargemacht, bis wohin sie sich bewegen durften.

Ein Extrembeispiel. Das Prinzip Waldkindergarten hat sich mittlerweile – immerhin 20 Jahre nach der Gründung des Vereins Waldkinder und damit einem der ersten seiner Art in der Schweiz – zumindest teilweise durchgesetzt: Städtische Kindergärten bringen die Kinder regelmässiger raus aus den sicheren und bequem geheizten vier Wänden in die Natur. Manche einmal pro Monat, viele schon einmal pro Woche. Die Hürden: Logistik, Anfahrt, Organisation.

Von Bequemlichkeit und der Überwindung dieser, aber auch von der momentan vielgehörten Resilienz im Kontext der Erziehung spricht die amerikanische Autorin Jessica Alexander. Sie hat ein Buch über die dänische Art der Erziehung geschrieben (Dänemark gilt als Pionier der Waldkindergärten). Alexander weist in ihrem Buch darauf hin, dass Resilienz einer der wirkungsvollsten Faktoren in der Kultivierung von Glück sei. In Bezug auf eine übervorsichtige Erziehung schreibt sie: «Im Leben geht es darum, sich die Knie aufzuschürfen. Fallen und wieder aufstehen. Das ist Resilienz.»

Dass sich mit «Resilienz» Silicon Valley und Bildungsexperten desselben Vokabulars bedienen, weist auf eine ökonomische Legitimation hin, im Vergleich zu einer eher bei Rousseau anzusiedelnden Perspektive der freien Persönlichkeitsentfaltung. Unabhängig von Legitimationsstrategien und Beweggründen breiten sich Naturpädagogik-Konzepte wie Waldkindergärten indes weltweit aus. Etwa im dichtbesiedelten Hongkong, oder in Südkorea, wo mittlerweile etwa die Hälfte aller Kindergärten mit Elementen des Waldkonzepts arbeitet.

Trotz der globalen Erfolgsgeschichte, der grossen Medienpräsenz, der Schwierigkeit des Autors, Nachteile zum Prinzip Waldkindergarten zu finden und einem Waldfest in Notkersegg mit über 200 Besuchern: Der Verein Waldkinder St.Gallen wird nicht von Eltern überrannt. «Es wissen noch wenige vom Waldkindergarten», sagt Caro Knoepfel. «Das Konzept ist den meisten wohl noch zu extrem.» Das Konzept: «Bei jeder Witterung». Und wohl gibt es – immer noch – die Skepsis gegenüber alternativen Unterrichtsstrukturen.

So ist der 20-jährige, pionierhafte Verein bis heute nicht reich geworden, sondern schafft gemäss Knoepfel mit den eher hohen Personalkosten den Break-Even. Für den renovierungsbedürftigen Bauwagen bestehen kaum Reserven, die geplante Kinderkrippe ist auch noch nicht genügend gebucht. Mangelndes Gespür oder fehlende Offenheit für alternative Wege der Finanzierung kann man dem Verein indes nicht unterstellen: 2005 wurde schon mal ein Award des Waschmittelherstellers Omo in Höhe von 5000 Franken entgegengenommen (Wettbewerb: «Dreck ist gut»).

Momentan läuft ein Projekt mit der Stiftung Mercator, und auf verschiedenen Ebenen wird versucht, weiter an zusätzliche Mittel zu kommen. Das Konzept umfasst neben Lehrgängen und Fachkursen auch Angebote wie die Waldspielgruppen, eine Waldvorspielgruppe und die Waldbasisstufe.

Am Mittag dieses Februarmorgens macht sich ein Teil der Kinder auf den Heimweg. Ältere ziehen Jüngere, Jüngere ziehen Ältere mit dem Bob durch den Wald. «Das dauert oft etwas länger», sagt Knoepfel. Am Waldrand wartet ein Teil der Eltern. Knoepfel begrüssen sie mit einer Umarmung. Sie haben «Bähnlidienst», bringen die Kinder zur Bahn oder in ihre Quartiere zurück.

Das ist wohl das einzige, was dem Waldkindergarten fehlt: Geld und ein gemeinsamer Heimweg.

Seit der Gründung des Vereins Waldkinder 1998, als Google gerade Altavista ablöste und die elektronische Welt-und Wissensvernetzung in Bewegung brachte, ist viel passiert: Kinder wachsen auf in einer digitalisierten Umgebung und in eine neue, digitale Arbeitswelt hinein. Eltern sind teilweise überfordert mit sozialen Netzwerken auf den Geräten ihrer Kinder, betrachten mit Technophobie oder Fortschrittsfreude die sich mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsbewegende Automatisierung und Algorithmisierung. Manche empfinden dabei Unbehagen, ein konstantes Gefühl der Beschleunigung und ein gesteigertes «Nervenleben», wie es der Soziologe Simmel schon vor 100 Jahren beschrieben hat.

Bei allem Fortschritt gibt es beim Waldkindergarten bis auf ein paar neue Songs oder Übungen indes nicht viel Neues. Es geht nach wie vor um die Basics: die Natur, der Umgang mit ihr und den Nächsten, die Bewegung und die Interaktion zwischen dem Wald als sich konstant veränderndes Schulzimmer, den Lehrpersonen und den Waldkindern, der Treue von König Winter, den Knospen, dem Krokus, dem Einmaleins und dem «h» im Frühling.

«Caro, was hat sich am meisten verändert in den 14 Jahren, seit du hier bist?»

Sie schaut in den Kreis der Kinder, die sich über Lunchboxen mit Karotten und Minipic beugen.

Sie überlegt.

Ihre lange Pause tut gut.

Dieser Text erschien im Märzheft von Saiten.

1 Kommentar zu Danke, König Winter

  • sør pørs sagt:

    Super – Schule etc. sollte eh mehr draussen stattfinden. Ich hatte noch das Glück, den Nachmittag für mich zu haben – natürlich sind wir in den Wald und hatten eine gute Zeit. Das ist wohl mit der “Ganztags-Schule“ endgültig vorbei. Ich erlebe viele Kinder, die auch einfach mal ihre Ruhe haben wollen und nicht nur den Drang zu lernen erleben wollen, oder die permanente Betreuung. Ein wenig mehr Freiheit kann hier nicht schaden…

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