, 12. Oktober 2020
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«Corona ging auf Kosten der Neugier»

Am Mittwoch macht die Frankfurter Buchmesse den Auftakt in den Bücherherbst – als «Special Edition», denn 2020 ist alles etwas anders. Im Frühling erlitt die Buchbranche einen akuten Fieberschub, der Herbst steht noch immer unter Virusvorbehalt. Wie verläuft die Fieberkurve aktuell bei Schweizer Verlagen? Eva Bachmann hat nachgefragt.

Gemeinsames Stöbern zwischen den Regalen? 2020 eher nicht.

«Uns wurde der Boden unter den Füssen weggezogen. Von einem Tag auf den anderen waren die Buchhandlungen geschlossen, die Presse absorbiert und alle Veranstaltungen aufgeschoben oder aufgehoben», erzählt Daniela Koch vom Rotpunktverlag.

Und André Gstettenhofer von Elster & Salis: «Wir waren in den Startlöchern und bereit, den Marathon unseres Lebens zu laufen. Und dann wurde alles abgesagt.» Das bedeutet: keine Aufmerksamkeit für die Frühlings-Bücher. «Es fühlt sich so an, als hätten unsere Frühjahrstitel von Malu Halasa und Jorge Zepeda Patterson nicht stattgefunden», sagt Gstettenhofer.

Absagen noch und noch

Schmerzhaft war die Absage der Leipziger Buchmesse mit dem grossen Lesefestival im Frühling. Schmerzhaft war auch die Online-Version der Solothurner Literaturtage; «das war tapfer, aber es kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzen», sagt Koch.

Abgesagt ist auch die Frauenfelder Buch- und Druckkunst Messe im November. Die Frankfurter Buchmesse vom 14. bis 18 Oktober wird zwar durchgeführt, beschränkt sich aber auf ein Liveprogramm in der Stadt und digitale Angebote. «Die klassische Hallenausstellung ist aufgrund der Reisebeschränkungen nicht durchführbar», teilte die Messeleitung im September mit. Die Quarantänebestimmungen sind für internationale Gäste zu rigoros.

Buchvernissagen, Festivals, Messen und auch der Buchhandel werden überall dort vermisst, wo es ums Stöbern und Empfehlen von Büchern geht. Während des Lockdowns wurde zwar mehr gelesen, aber eher sichere Werte und Klassiker. Neuheiten, die das Publikum erst entdecken musste, hatten es schwer. «Es ging auf Kosten der Neugier», bilanziert Gstettenhofer.

Absagen von Veranstaltungen treffen auch den Sachbuchbereich: Weil das Jubiläumskonzert 400 Jahre Oratorienchor nicht stattfinden konnte, lagert nun ein grosser Teil der aufwendigen Publikation dazu ein Jahr im Keller der Verlagsgenossenschaft St.Gallen VGS.

Ein regelrechtes Fest hätte das Erscheinen der Wiler Stadtgeschichte Stadt auf dem Land: Wil vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart verdient gehabt, stattdessen: Voranmeldung und Platzzahlbeschränkung – Stimmung kommt da kaum auf. Doris Ueberschlag hofft, dass die Bücher ihre Leserinnen noch finden: «Das sind Publikationen, die einen Wert über den Tag hinaus haben.»

Ganz ähnlich klingt es beim Triest Verlag für Architektur, Design und Typografie. «Unsere Bücher sind langlebig, sie verkaufen sich über Jahre», sagt Kerstin Forster. Ob sich das Corona-Tief aufholen lasse, müsse sich aber erst noch zeigen. Ihre (Kurz-)Arbeitszeit während des Lockdowns hat sie vermehrt für Pressearbeit und Internet-Kommunikation verwendet.

Virus statt Flüchtlinge

Eröffnet die vielgelobte Digitalisierung also einen Ausweg? Für die sorgfältig gestalteten Bücher von Triest kommen E-Books nicht in Frage. Selbst für Promotion sei das Internet kein wirklicher Ersatz für einen Anlass mit persönlichen Gesprächen, sagt Kerstin Forster.

Der Salis Verlag hat schon früh auf digitale Publikationen und Online-Kommunikation gesetzt. Aber auch André Gstettenhofer sagt, dass E-Books zwar zugelegt haben, den Verkauf im Laden aber nicht auszugleichen vermögen.

Deutlich mehr online ging hingegen der Rotpunktverlag: Er hat ein Crowdfunding gestartet, um über die Runden zu kommen. Und die Autorinnen und Autoren haben aus Solidarität mit ihrem Verlag ein Corona-Tagebuch geschrieben, hier nachzulesen. «Das hat uns Schwung gegeben», sagt Koch. Mit Bedauern erzählt sie aber vom Buch Namen statt Nummern von Cristina Cattaneo, einer Forensikerin, die Opfer der Flüchtlingstragödien im Mittelmeer identifiziert. Für dieses Thema hatte es in den Medien schlicht kaum mehr Platz.

Andererseits gab es im Rotpunktverlag auch Gewinner. Das waren einmal die Wanderbücher über Regionen in der Schweiz. Und das war auch Fabio Andinas Tage mit Felice. Das Buch über das zurückgezogene Leben im Tessiner Dorf hat den Nerv der Zeit getroffen und ist zu einem überraschenden Bestseller geworden.

Spätfolgen

Daniela Koch ist sich sicher, dass Corona Spätfolgen haben wird: «In normalen Jahren komme ich jeweils mit einem gut gefüllten Notizbuch von der Frankfurter Buchmesse zurück. Die fehlenden Begegnungen werden sich auf die Programme im nächsten Jahr auswirken.» Der Rotpunktverlag hat bereits das Herbstprogramm 20 verkleinert.

Auch Elster & Salis hat eine aufwendigere Übersetzung verschoben, und den neuen Messeauftritt in Frankfurt wird es erst 2021 geben. André Gstettenhofer ist trotzdem vorsichtig optimistisch: «Es gab noch nie so viele Buchvernissagen wie im September 2020.»

Auch «Zürich liest» soll stattfinden (21. bis 25. Oktober). Etwas verhaltener klingt Kerstin Forster. Wöchentlich ändernde Vorgaben und kantonale Sonderbestimmungen: «Wie soll ich da eine Veranstaltung planen?»

Eine Spätfolge der anderen Art zeichnet sich aber auch ab: Alle Verlegerinnen und Verleger sagen, sie hätten die veranstaltungsfreie Phase genutzt für Investitionen in die Zukunft. Es blieb mehr Zeit für sorgfältige Planung und eingehendes Lektorat. Der neue Bücher-Jahrgang könnte also quantitativ vielleicht klein, qualitativ dafür aber hervorragend werden.

Lese-Empfehlungen:

Daniela Koch, Rotpunktverlag empfiehlt: Simon Deckerts vergnügliches Debüt Siebenmeilenstiefel und Stefan Kellers Spuren der Arbeit – eine kleine Weltgeschichte, konsequent von den Menschen her erzählt.

André Gstettenhofer, Elster & Salis: das alles hier, jetzt von Anna Stern. Und ausserdem: Das blutige Auge des Platzspitzhirschs von André Seidenberg. Der Autor war Arzt in Zürich und erinnert sich an 40 Jahre Drogenszene und Drogenpolitik.

Doris Ueberschlag, VGS: Larry Peters – Looking at art. Der Band zum 80. Geburtstag von Larry Peters zeigt ihn als Künstler und Kunstbetrachter, aber auch seinen subtilen Umgang mit Wort und Sprache.

Kerstin Forster, Triest: (K)ein Idyll – Das Einfamilienhaus. Eine Wohnform in der Sackgasse von Stefan Hartmann. Eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und geschichtlichen Hintergründen des Einfamilienhauses sowie Lösungsansätzen für die Zukunft.

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