Chüngel und Antifa

Von den Weihnachtsgeschichten aus meiner Kindheit und Jugend sind mir diejenigen, welche mein Grossvater immer erzählte, am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben. von Dani Fels
Von  Gastbeitrag
Dani Fels (Bild: Ladina Bischof)

Weihnachten bei meinen Grosseltern in der Arbeitersiedlung Bocksriet in Schaffhausen waren immer etwas Besonderes. Im winzig kleinen Esszimmer rückte die 13-köpfige Verwandtschaft eng zusammen und liess es sich bei Spätzli und Chüngel gutgehen. Gekocht hat immer mein Grossvater.

Zum Chüngel bestellte er beim Metzger gerne zusätzliche Köpfe, in Spitzenjahren waren es sieben Stück, da in der Familie darauf geschworen wurde, dass es nichts Köstlicheres gäbe als Chüngelbäggli.

Der Chüngel war aber bloss der Vorlauf für ebendiese Geschichten, die mein Grossvater uns Enkelinnen und Enkeln nach dem Essen erzählte. Er zog sich mit uns in die gute Stube zurück und nahm ein Buch hervor, auf dessen Umschlag eine Art Metzger mit blutbespritzter Schürze und furchteinflössendem Gesichtsausdruck abgebildet war. Dann begann er wortreich zu erzählen, zeigte uns Kindern immer wieder mal ein Bild aus dem Buch und verscheuchte unsere Eltern, die ihn vom Erzählen mit dem Einwand abhalten wollten, wir seien doch noch zu jung für diese Geschichten.

«Diese Geschichten», die uns Grossvater aus seinem Buch erzählte, waren die Texte, welche Kommunisten im Exil unter dem Titel Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror 1933 herausgebracht hatten. Grossvaters Botschaft an uns Kinder war, dass niemand behaupten solle, man habe die Schrecken des Dritten Reichs nicht früh kommen sehen und, das war ihm besonders wichtig: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

Für diese frühe Sensibilisierung bin ich meinem Grossvater, der sein Brot als Tramchauffeur verdiente und in seiner Freizeit handfest antifaschistische Aktion praktizierte, sehr dankbar. In Zeiten wie diesen, mit einem Faschisten als Präsident der USA, mit Rechtsradikalen, die in ganz Europa in den Startlöchern sind, auch in der Schweiz, hilft mir das früh geweckte Bewusstsein, dass diesen Verächtern von Menschenrechten und einer solidarischen Gesellschaft nie mit Verständnis, sondern nur mit Entschlossenheit zu begegnen ist.

Ein Grund, der Antifa endlich mal danke zu sagen.

Das erwähnte Buch ist auf archive.org zum freien Download verfügbar. (Der «Metzger» auf dem Buchumschlag war übrigens ein Nazischlächter, gestaltet vom grossen John Heartfield/Helmut Herzfeld): archive.org/details/BraunbuchberReichstagsbrandUndHitlerterror

Dani Fels, 1961, ist Dozent an der FHS St.Gallen und Fotograf. Er schreibt monatlich die Stadtkolumne in Saiten.Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.