Christianisierung im Rückwärtsgang

Gedanken zum Lichterlöschen in der Herz-Jesu-Kirche Rorschach. von Peter Müller
Von  Gastbeitrag

Ein Abschiedsgottesdienst nicht für einen Menschen, sondern für ein Kirchengebäude. So etwas erlebt man nicht alle Tage, wird in Zukunft aber vermehrt dazu Gelegenheit haben. Denn das Thema «Kirchenschliessungen» ist hierzulande erst am Anrollen, auf katholischer wie protestantischer Seite. Die Zahl der Gläubigen sinkt kontinuierlich, der Unterhalt der Kirchgebäude kostet, und die Instand­setzung alter Kirchengebäude kann schnell ganz viel kosten. Ja, da wird es noch manche Kirchen­schliessungen geben, landauf, landab, und schwierige Diskussionen, was mit den Gebäuden passieren soll. Da läuft ein epochaler Wandel, die Christianisierung im Rückwärtsgang sozusagen.

Das «Lichterlöschen» in der Herz-Jesu-Kirche in Rorschach am vergangenen Freitag ermöglichte eine sehr konkrete Begegnung mit diesem Thema. Rund 220 Menschen hatten sich zum letzten Gottesdienst eingefunden, die meisten waren aus Rorschach und gehörten altersmässig in den Bereich «grau- bis weisshaarig». Es ist davon auszugehen, dass sie verschiedene Motive hatten, an diesem Gottesdienst teilzunehmen. Zu den wichtigsten gehörte wohl der Abschied von ihrer Kirche, von einem Stück Heimat, mit dem sie vielfältige Erlebnisse verbinden, vielfältige Gefühle und Erinnerungen. Man könnte hier eine ganze Liste aufstellen: Taufen, Heiraten und Abdankungen, Oster- und Weihnachtsgottesdienste, die Weihnachtskrippe, Singen im Chor, Ministrieren, Orgel-Spielen … Dazu kommen all die Momente, in denen diese Kirche in schwierigen persönlichen Situationen eine Insel im Sturm war, ein Brunnen in der Wüste. Man besuchte sie in einer freien Stunde, setzte sich in eine Kirchenbank oder vor ein Heiligenbild …

Dazu kommen sicher viele «allzu menschliche» Geschichten, die sich in dieser Kirche abspielten, vor und hinter den Kulissen: Lustiges, Skurriles, Bedenkliches… Ob in der Sakristei, auf der Empore oder in den Kirchenbänken. Ein hübsches Beispiel ist der Ausdruck, mit dem ein etwas arroganter Rorschacher Musiklehrer und Organist vor Jahren die Orgel dieser Kirche abqualifizierte: Das sei eine «Psalmen-Pumpe». Natürlich war das gestern nicht öffentlich zu erfahren, sondern nur in einem privaten Gespräch. Ja, da verabschiedeten sich gestern viele Leute von einem Stück Heimat. Ein Punkt, den man ernst nehmen sollte, gerade dann, wenn einem diese katholische Welt nicht viel sagt, oder nicht mehr viel sagt. Wir brauchen alle ein Stück «Heimat». Und sollten uns das gegenseitig gönnen.

Am Puls des Wandels

Mit diesen Überlegungen lässt sich der letzte Gottesdienst in der Herz-Jesu-Kirche in Rorschach allerdings nicht «ad acta» legen. Da war noch mehr im Raum. Eben: weil man sozusagen am Puls eines epochalen Wandels war. In diesem Gottesdienst kristallisierten sich verschiedene Themen und Probleme. Eigentlich wars fast zuviel. Was sich vom ersten Augenblick aufgedrängt hat, ist das Fazit: Die offizielle katholische Kirche ist auch in Rorschach überaltert, ist in der Defensive, in der Erosion. Dieses zweite katholische Kirchengebäude, eröffnet 1899, brauchts nicht mehr. Jetzt genügt wieder die alte Pfarrkirche unten im Stadtzentrum. Das zeigt sich inzwischen selbst bei den grossen Messen des Jahres, zum Beispiel dem Mitternachtsgottesdienst an Weihnachten. Der Priester liess diesen Aspekt nicht unerwähnt, allerdings ziemlich homöopathisch. Er scheute sich, klare Worte zu reden – wohl auch aus Rücksicht auf die Menschen in den Kirchenbänken, eben: die Grau- und Weisshaarigen.

Das führt zu einem zweiten Punkt, der einem beim Lichterlöschen in der Rorschacher Herz-Jesu-Kirche durch den Kopf gehen konnte: Wie weit braucht man als gläubiger Mensch überhaupt einen solchen spirituellen, lokalen Kirchenhafen? In diesem Fall: ein Kirchengebäude, geweiht 1899. Ein Kirchengebäude, dessen Inszenierung der katholischen Glaubens- und Gedankenwelt inzwischen 125 Jahre alt ist. Besonders augenfällig zeigen das die mächtigen Statuten der zwölf Apostel oben an den beiden Längswänden, sechs links, sechs rechts. Sie begleiten die KirchenbesucherInnen gleichsam auf ihrem Gang nach vorn zur Kirche. Eindrücklich, durchaus. Aber auch kurios-pompös, männerlastig und etwas altertümlich. Ist Gott nicht überall zu begegnen, ob im Durcheinander des Alltags, in der Stille des Waldes oder auf den Wellen des Sees – ohne die Hinführung durch diese zwölf Männer, und all ihre Nachfolger, vom Papst bis zum Dorfpriester?

Industrie-Boom und digitale Durcheinanderzeiten

Wenn man die Sicht umkehrt, könnte man fragen: «Wenn diese Kirche nun für Gottesdienste definitiv geschlossen ist – was nehmt ihr aus diesem Kirchengebäude mit, für die Zukunft? Was braucht ihr wirklich für ein gutes, gelingendes Leben: welches Altarbild, welche Heiligenstatue, welchen Silberkelch?» Man könnte die Frage sogar noch zuspitzen: «Wenn ihr heute, 2024, ein neues Kirchengebäude planen müsstet – wie sollte es aussehen?» Eigentlich sind das zwei sehr reformatorische Fragen, und die Reformation hatte da ziemlich klare Antworten. Der Priester behandelte in seiner Predigt auch diese Aspekte, und auch sie nur homöopathisch – was man ihm kaum verdenken kann. Er hat schliesslich eine offizielle Landeskirche zu vertreten.

Etwas heikel ist auch der bevölkerungsstatistische Aspekt, der mit alledem verbunden ist: Ende 19. Jahrhundert, in der Bauzeit der Herz-Jesu-Kirche, war Rorschach eine industrielle Boomtown, ein pulsierendes Wirtschaftszentrum. Und in dieser Boomtown spielten Migrant:innen bereits eine wichtige Rolle, insbesondere in den Fabriken, und auf den vielen Baustellen. Historische Quellen berichten denn auch, dass die Rorschacher Herz-Jesu-Kirche vor allem von Bauarbeitern aus Deutschland und Norditalien gebaut worden sei. In unserer globalisierten, multikulturellen Gegenwart präsentieren sich diese Themen noch komplexer, noch pointierter – gerade in Rorschach. Am 31. Dezember 2022 lebten hier 9777 Menschen. 50,6 Prozent von ihnen hatten einen ausländischen Pass. Rorschach, eine multikulturelle Stadt mit all ihren Stärken, all ihren Schwierigkeiten. Beim letzten Gottesdienst in Herz-Jesu-Kirche waren auch diese Realitäten nur homöopathisch präsent.

Und ein letzter wichtiger Punkt: Diesen Heimat-Verlust sollte man auch im Kontext einer Alltagswelt betrachten, die insgesamt im Wandel ist. Kirchengebäude sind nicht die einzigen Heimat stiftenden Alltagsorte, die man mit dem Älterwerden verliert. Da gibt es noch andere, gerade in diesen Durcheinander-Zeiten, in denen wir heute leben, leben können, leben dürfen, leben müssen. Auch hier liesse sich eine längere Liste aufstellen: Beizen, Regionalspitäler, Kinos, Plattenläden, Buchhandlungen, Poststellen, Bahnschalter … Auch sie führen zu einem Verlust von «Heimat». Wie soll man damit umgehen? Natürlich gibt es da auch Alternativen – man muss sie nur finden. Einfach ist der Umgang mit diesen epochalen Veränderungen auf jeden Fall nicht. Und die digitale Welt bietet dafür nur beschränkt Ersatz. Der digitalen Welt fehlt insbesondere das Lebendige, das Leben.

Und die Turmuhr?

Gar nicht behandelt wurde gestern auch die Frage, wie es mit diesem Kirchengebäude weitergehen soll. Da musste man erst ins Internet, um das eine oder andere zu erfahren. Ein Abbruch kommt für den Kirchenverwaltungsrat offenbar nicht in Frage – die Kirche gehöre als «Landmarke» ins Stadtbild von Rorschach. Angedacht ist eine Umnutzung des Gebäudes – ob Wohnungen, Kulturveranstaltun­gen oder Gastro-Betriebe. Beispiele dafür gebe es im Ausland. Bereits diskutiert und dann fallengelas­sen wurden gewagtere Projekte – vom Hallenbad bis zur Asylunterkunft.

Klar war am Freitag hingegen, dass die Zeit für die Herz-Jesu-Kirche Rorschach abgelaufen ist. Man spürte, dass sie seit zehn Jahren liturgisch nicht mehr gebraucht wird. Sie wirkte etwas vernachlässigt, etwas ungepflegt. Und wäre an sich ein schöner, stimmungsvoller Kirchenbau. Man muss nicht Kunstgeschichte studiert haben, um das zu merken. Auch die Akustik war gestern nicht überwältigend. Man hatte zum Teil Mühe, die Priester und den Lektor zu verstehen. Am Freitag war also definitives Lichterlöschen.

Noch sind allerlei Fragen offen. Eine besondere: Läuft die Turmuhr weiter? Das wäre sicher klug. Sonst würde man in Rorschach noch denken: «Was ist da los? Ist bei den Katholiken die Zeit stehengeblieben?» Gut diskutieren können hätte man all diese Fragen bei einem anschliessenden Apéro – ob in der Kirche oder draussen. Bei Wein, Mineral und Orangensaft, Nüssli und Salzstangen. Es gab leider keinen – aus welchen Gründen auch immer. Sofort geleert hat sich die Kirche allerdings nicht. Einige Gottesdienst-Besucher:innen blieben noch etwas in der Kirchenbank sitzen, andere gingen herum, blieben gelegentlich versonnen stehen, machten ein Foto, und wieder andere standen beisammen und unterhielten sich. Lange dauerte das allerdings nicht. Dann war die Kirche leer und wurde geschlossen. Mit welchen Gedanken sind die Leute wohl nach Hause gegangen? Und wie wird es nun den zwölf Aposteln oben an den beiden Längswänden ergehen, und den Gestalten auf den 14 Darstellungen des Kreuzwegs? Wie werden sie sich die Zeit vertreiben?