Ein wilder Ritt. So lässt sich das neue Album von Ziska von Crayen wohl am besten beschreiben. Hier vereinen sich pulsierende Beats, vokale Bilder und die urige Tradition des Appenzeller Silvesterchlausens. Geht das zusammen, kann man sich fragen. Absolut, lautet die Antwort. Ist es gut, fragt man weiter. Das wiederum müssen alle für sich selbst entscheiden. Gut findet es sicher die Künstlerin, die das Projekt mit viel Leidenschaft umgesetzt hat und es einfach «geil» findet.
Neues Brauchtum
Das Silvesterchlausen findet sowohl an Silvester als auch am 13. Januar im ausserrhodischen Appenzell statt. Bei diesem urchigen Winterbrauch ziehen die Chläuse schon in den frühen Morgenstunden von Hof zu Hof, um den Bewohner:innen einen guten Start ins neue Jahr zu wünschen. Dabei singen sie ihre traditionellen Zäuerli, begleitet von rhythmischen Schellenklängen.
Die Chläuse stecken in aufwendigen, kunstvollen Kostümen. Je nach Art der Verkleidung werden sie in drei Gruppen unterteilt: die Schönen, die Schö-Wüesten und die Wüesten. Jede Gruppe hat ihren ganz eigenen Look – von detailreichen, prachtvollen Gewändern bis hin zu wilden Kreationen.
Aber zurück zum Album von Ziska von Crayen, das am 12. Februar erschienen ist. Darin greift die Künstlerin das Silvesterchlausen auf und transformiert das uralte Brauchtum in eine völlig neue Form. Denn Traditionen können und dürfen ja unbedingt verändert werden – auf welche Art auch immer. Schliesslich haben sie das immer getan.
Essenz des Chlausen
Ziska von Crayen ist selbst im Appenzellerland aufgewachsen und bezeichnet sich gerne als Appenzeller Hexe. Mit der Tradition des Chlausens ist sie quasi gross geworden: Schon als Kind stapfte sie mit ihrem Vater durch die Dörfer und erlebte den Brauch hautnah. In Erinnerung geblieben ist ihr vor allem das Gefühl, das beim Chlausen entsteht: Gemeinschaft, Frieden und Versöhnung. «Chlausen ist im Grunde Friedensarbeit», sagt sie. Und genau darum gehe es auch in ihrer eigenen künstlerischen Praxis. Naheliegend also, dass das Chlausen im Zentrum ihres Werks Pura steht.
Aber geht es ihr wirklich nur um den Brauch? Jein. Sicher, das Chlausen selbst faszinierte sie, sagt von Crayen, aber eigentlich interessiere sie noch viel mehr das, was dahintersteckt: «die Essenz, dieses schwer zu beschreibende, aber spürbare Gefühl, das Menschen verbindet». Genau diese «Essenz» will die Künstlerin mit ihrem neuen Album transferieren und auch für das Publikum erfahrbar machen. Denn Pura ist nicht einfach nur ein Musikalbum – es soll laut der Künstlerin ein «Türöffner zu mehr Achtsamkeit, Selbstfindung und innerer Balance sein». Klingt das etwas esoterisch? Ist vermutlich Geschmacksache. Die Künstlerin selbst bestreitet es jedenfalls.
Viel von allem
Pura ist ein Album, das sich zwischen musikalischer Ritualkunst, experimenteller Klangperformance und spiritueller Suche bewegt. Das in Zusammenarbeit mit dem Produzenten M. Rux entstandene Werk vereint improvisierten Gesang, hypnotische Harmonien und perkussive Elemente mit elektronischen Beats, so die Künstlerin. Das Besondere? Die zehn Tracks sind komplett «wortfrei, aber doch voller Inhalt». Erscheint zunächst paradox, macht aber laut Ziska von Crayen durchaus Sinn. «Denn jeder Vokal, jeder Ton trägt eine Bedeutung» – welche genau, bleibt allerdings offen.
Das Gesamtkunstwerk Pura entfalte seine volle Wirkung erst in Kombination mit der visuellen Inszenierung, sagt die Künstlerin. Ob live auf der Bühne oder als aufwändiges Musikvideo – Kopfschmuck, Masken und wilde Muster verwandeln Ziska von Crayens Performance in ein echtes Spektakel. Die Inspiration für die aktuellen Kostüme ist offensichtlich – es handelt sich um eine Neuinterpretation der traditionellen Chlaus-Kostüme. Und ja, mit ein wenig Fantasie könnte man hier und dort auch Parallelen zu stereotypen Darstellungen von indigenen Kulturen ziehen. Aber weit gefehlt, sagt die Künstlerin – denn ihre Inspiration stamme einzig und allein aus dem Appenzellerland. Man sehe Hauben, Trachten und Schellen – «alles pure Schweizer Tradition!»
Mit Pura will die Schweizer Künstlerin Ziska von Crayen den Spagat zwischen archaischer Tradition, elektronischer Musik und spiritueller Transformation machen. Ihre Faszination für uralte Rituale, Naturverbundenheit und intuitives Musizieren wird dabei deutlich spürbar. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick – oder Ton – scheint. Ist Pura nun ein avantgardistisches Klangexperiment oder «eine moderne Form der Klangtherapie», wie von Crayen sagt? Wer sich darauf einlässt, erlebt auf jeden Fall ein einzigartiges, intensives Klangerlebnis und findet es vielleicht – wie die Künstlerin selbst – «geil». Wer jedoch klare Strukturen und traditionelle Songformate sucht, dürfte sich in diesem Klangkosmos verlieren – oder gar nicht erst hineinfinden.