Boubou
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Es ist heiss am Abend der Eröffnung in der «Raw Material Company», dem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Dakar. Monique Ndakaaru, eine selbstbewusste junge Frau, die in Dakar und Paris studiert hat, trägt ein weites Gewand aus festem, steifem Stoff, der bei jeder Bewegung leise raschelt. Wenn die Sonne auf das Gewebe trifft, changieren die expressiven Farben und verschiedene eingewobene Muster werden sichtbar. Auf das Kleidungsstück angesprochen, erklärt sie, dass sie es von ihrer Mutter geerbt habe, da sie sich einen solchen «Boubou» niemals leisten könne.
Der Boubou ist in Westafrika allgegenwärtig und wird in Mali genauso getragen wie im Senegal. Allerdings war er traditionell ein Kleidungsstück für Männer, das vor allem in religiösen Zusammenhängen angezogen wurde. Heute wird der weitgeschnittene, lange Umhang auch an weltlichen Festen wie Hochzeiten, Firmeneinweihungen oder Jubiläen getragen und stolz präsentiert – auch von Frauen.
Mode und Kulturwandel
Wie überall in der globalen Kulturgeschichte manifestieren sich auch in Dakar soziale Veränderungen zuerst in der Mode. Monique Ndakaaru verweist als Kulturanthropologin etwa auf die Rolle der Glasperlen im 19. und frühen 20. Jahrhundert in verschiedenen Sprachregionen Afrikas, wo die Perlkunst religiöse, transformatorische Funktionen haben kann und gleichzeitig den sozialen Status der Trägerin oder des Trägers anzeigte. Da sich die Vorlieben für die verschiedenen Perlen rasch und kontinuierlich änderten, änderten sich auch die Schmuckstücke und Accessoires mit ihren Bedeutungsfeldern ständig.
Die Kraft der Mode löse auch transkulturelle Bewegungen aus, erläutert sie. So seien die berühmten Halsteller der Maasai in Kenia, die beim Tanzen und Springen so wunderbar wippende Muster erzeugen und tausendfach von den Kameras der Touristinnen eingefangen werden, historisch in dieser Form nicht nachweisbar. Wahrscheinlich seien sie von den benachbarten Kamba übernommen worden. Die Anziehungskraft der dichten Perlenreihungen sei wohl so stark gewesen, dass formal kulturelle Grenzen übersprungen worden seien.
Der Boubou ist für Monique Ndakaaru ein Beweis für die Beständigkeit des Wandels in Westafrika. Sie ist stolz auf ihre starke Mutter, die Karriere gemacht und ihren Boubou getragen hat, als dies noch nicht selbstverständlich war. Ausserdem habe die Renaissance des Kleidungsstückes von Dakar über Banjul und Conakry bis Bamako nicht nur feministische Perspektiven vorangetrieben und sichtbar gemacht, sondern auch mitteleuropäische Arbeitsplätze gerettet.
Mitteleuropäische Arbeitsplätze gerettet?!
Die Spuren, Interferenzen und Konsequenzen dieser Aussage an einem heissen Abend in Dakar führen direkt ins Gewerbegebiet von Russikon im Zürcher Oberland, in ein historisches und zeitgenössisches Dreieck zwischen Zürich, St.Gallen und dem Vorarlberg. Die Weberei Russikon AG wurde 1890 als Teppichweberei gegründet und beschäftigt heute rund 70 Mitarbeitende. 1996 sah es düster aus, die Weberei stand (wie so viele) kurz vor der Schliessung, als sie von der im Vorarlbergischen ansässigen Getzner Textil AG übernommen wurde. Konsequent wurde die Produktion dem Markt angepasst, auf 80 Jacquard-Greiferwebmaschinen werden 3,4 Millionen Laufmeter Afrika-Damast pro Jahr produziert, die dann in Ballen an Zwischenhändler, Weiterverarbeitungsbetriebe und Veredlungsmanufakturen in Westafrika weiterverkauft werden.
Weberei und Dreieckshandel
Die Webmaschinen, die Joseph-Marie Jacquard (1752– 1834) 1805 patentieren liess, spielten eine wesentliche Rolle in der industriellen Revolution des Westens, die den durch den kolonialen Dreieckshandel gewonnenen Vorteil Europas weiter festigte. Die wichtigste Verbesserung von Jacquards Musterwebstuhl bestand im Einsatz einer Lochkartensteuerung. Dank dieses Prinzips, das eigentlich eine Frühform der Digitalisierung ist, konnten endlose Muster von beliebiger Komplexität mechanisch hergestellt werden. Als sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Baumwolle auch in der Ostschweizer Textilproduktion durchzusetzen begann, waren es zuerst voralbergische Webstühle, die den Produktionsprozess beschleunigten. Die Kombination der industriellen Jacquard-Webstühle mit dem neuen Material Baumwolle sorgte dann für ein beispielloses Aufblühen der Textilindustrie in der Ostschweiz.
Der Afrika-Damast, den die Getzner Textil AG aus der vorarlbergischen Provinz heute nach Westafrika verkauft, scheint dabei wie eine postkoloniale Fussnote der (Kolonial-)Geschichte. Damast wird auf Webstühlen gewoben, die über spezifische Zug- und Greifeinrichtungen verfügen. Damit können im Gewebe beliebig lange Musterungen erzeugt werden, die sich über die ganze Breite der Webbahn erstrecken. Die irisierende Wirkung der eingewobenen Muster wird dadurch erzeugt, dass sich kett- und schusssichtige Partien abwechseln. Aufgrund der aufwendigen Webtechnik und der grossen Zugbelastung können Damast-Stoffe nur mit sehr hochwertigen und glatten, glänzenden Materialien hergestellt werden, früher Seide, Kammgarn und Leinen, ab dem 20. Jahrhundert bis heute überwiegend aus mercerisierter Baumwolle. Die frühesten gehandelten Damaste stammten aus China und gelangten über die Seidenstrasse nach Europa und in den Mittelmeerraum. Ab dem 12. Jahrhundert konzentrierte sich die Produktion in und um Damaskus, jener Stadt, die dem Stoff zuerst seinen italienischen und dann den deutschen Namen gab. Von Damaskus aus wurden Damastballen früh nach Afrika gehandelt, wo sie vorwiegend in Westafrika in der Herstellung von Boubou für Männer Verwendung fanden.
Die in der Ostschweiz ab dem 18. Jahrhundert verwendete Baumwolle ist stark mit Westafrika assoziiert. Zwar war die eigentliche Sklaverei (deren Währung in Afrika die erwähnten Glasperlen der Maasai war) zwischen 1865 (USA) und 1888 (Brasilien) abgeschafft worden und damit jenes Handelssystem zerfallen, das auf der Verschleppung afrikanischer Sklaven auf Schiffen nach Nord- und Südamerika und der Karibik in die eine Richtung, ihrem Verkauf und ihrer Ausbeutung auf den dortigen Baumwollplantagen, der Ausfuhr der dort produzierten Rohwaren auf Schiffen nach Europa, der Veredelung und Weiterverarbeitung der Baumwolle zu Textilien in Europa und deren Ausfuhr mit Schiffen nach Afrika beruhte (wo dann die Schiffe erneut mit Sklaven gefüllt wurden). Doch wurde dieses System des Dreieckshandels durch ein koloniales Netz britischer Prägung der merkantilen Ausbeutung ersetzt.
Alte und neue Hegemonien
Die vorkoloniale Kultivierung der malvenartigen Baumwollpflanze, die ungefähr zeitgleich in Indien, Peru und Süd- bis Westafrika gelang und sich von dort nach China, Mexiko und in die Levante ausbreitete, um im antiken Ägypten und dem Mittelmeerraum Erfolge zu feiern, spielte für den wirtschaftlichen Erfolg jener Regionen und Kulturen unter den Voraussetzungen des Kolonialismus keine Rolle. Die Schweiz (insbesondere die Ostschweiz) profitierte hingegen davon. Unternehmen wie die Russikon Weberei AG oder die Getzner Textil AG haben mit diesem System der Ausbeutung zwar nichts mehr zu tun, aber es fand und findet auch keine sichtbare aktive Auseinandersetzung mit den merkantilen Voraussetzungen des heutigen Baumwollhandels statt.
Monique Ndakaaru würde wohl argumentieren, dass eine protektionistische europäische Wirtschaftspolitik die alten Hegemonien aufrechterhält, dass billige Arbeitskräfte im globalen Süden die mercerisierte Baumwolle produzieren, die anschliessend in der Schweiz und in Österreich zu jenen edlen Stoffen weiterverarbeitet wird und dann wiederum als Damast-Ballen in Westafrika abgesetzt werden. Weniger erstaunlich allerdings als die legitime ökonomische Findigkeit von zeitgenössischen Unternehmen – zumal die Weiterverarbeitung des Damasts in Mali und Senegal auch Arbeitsplätze generiert – ist die mangelnde Darstellung dieser historischen Zusammenhänge in Ostschweizer Institutionen. Als Beispiele mögen hier die Ausstellungen «Fabrikanten und Manipulanten. Eine Ausstellung zur Ostschweizer Textilgeschichte» im Textilmuseum St.Gallen 2017 oder die Sammlungspräsentation der Afrikanischen Textilien des Historischen- und Völkerkundemuseums dienen, die es tunlichst vermeiden, solche Bezüge für ein grösseres Publikum sichtbar zu machen.
An jenem heissen Abend in Dakar sind sie jedoch präsent. Das Erbstück von Monique Ndakaaru, der Boubou, den sie trägt, vereinigt alle diese Fragmente globaler Geschichte in seiner schimmernden Oberfläche. Der Stolz und das Selbstbewusstsein der jungen Frau zeugen davon, dass man sich auch ein schweres Erbe auf eine zukunftsträchtige Art aneignen kann. Umso schöner wäre es, wenn wir in der Schweiz, einem der Ursprungsländer der unseligen Herrschaftsmechanismen des Kolonialismus, zu einem konst ruktiveren Umgang mit diesem Erbe finden würden, anstatt immer nur dessen ästhetische und handwerkliche Dimension zu musealisieren und uns in den ökonomischen Aspekten dieser historischen Entwicklung als Opfer des Strukturwandels zu inszenieren.
Dieser Text ist in der Septemberausgabe von Saiten erschienen.
Damian Christinger ist freier Kurator, Publizist und Dozent.