Bogen macht tabula rasa

Der künftige St.Galler Theaterdirektor Jan Henric Bogen wechselt 2023 die ganze Führungsriege aus. Als Kritik an der bisherigen Arbeit will er das aber nicht verstanden haben. Und verspricht Partizipation – von der bisher allerdings nichts zu spüren ist.
Von  Peter Surber
Jan Henric Bogen. (Bilder: Theater St.Gallen)

Was das Theater St.Gallen am Dienstag als «Neuausrichtung» mitgeteilt hat, ist ein veritabler Kahlschlag: Nicht nur Schauspieldirektor Jonas Knecht muss im Sommer 2023 gehen, sondern auch Tanzchef Kinsun Chan und Konzertdirektor Florian Scheiber.

Muss gehen: Florian Scheiber.

Für Chan wird St.Gallen damit zur Episode – er hat erst 2019 die Leitung der Tanzsparte übernommen. Florian Scheiber, der Konzertdirektor, ist hingegen eine Institution. Seit 2004 verantwortet er die Programme des Sinfonieorchesters und die Kammermusikreihen in der St.Galler Tonhalle. Für einen «Abgesang» sei es zu früh, sagt Scheiber auf Nachfrage – «ich bin noch mehr als ein Jahr da und freue mich auf die wunderbaren Projekte, die noch bevorstehen».

Jetzt rückt Chefdirigent Modestas Pitrenas in die Leitungsriege auf – sein Vertrag wurde um vier Spielzeiten verlängert. Damit solle die künstlerische Chefposition gestärkt werden und das Konzertleben mehr als bisher von Pitrenas’ Charisma profitieren, begründet Jan Henric Bogen den Entscheid. Für die Administration wird neu ein Konzertbüro geschaffen.

Verbindung zur Stadt gekappt

Die eine, problematische Folge dieser Entscheide: Florian Scheiber war und ist, ebenso wie Jonas Knecht im Schauspiel, eine starke Identifikationsfigur in der Stadt und der Region. Beide sind präsent, kommunikativ, vielfältig verbunden mit der Bevölkerung. Im «Tagblatt» äusserten sich denn auch Exponent:innen des St.Galler Musiklebens «entsetzt» über Scheibers Entlassung.

Nimmt man den noch amtierenden geschäftsführenden Direktor Werner Signer hinzu, der seit drei Jahrzehnten Theater, Wirtschaft und Politik in der Region blendend vernetzt, so ist klar: Mit dem Abgang von Knecht, Scheiber und Signer verliert das Theater ein wichtiges Beziehungsnetz zur Region und eine geballte Ladung Knowhow.

Die Frage ist: Wie will ein komplett neues Leitungsteam, von dem einzig Jan Henric Bogen St.Gallen schon ein bisschen kennt, diesen Verlust an Beziehung wettmachen?

Fragwürdige Tonalität

Der andere, fragwürdige Aspekt ist die Tonalität, mit der der Verwaltungsrat und der neue Gesamtverantwortliche Leiter die Neuerungen ankündigen. Bogen spricht vom «frischen Wind», den es brauche, er erhofft sich «Sauerstoff-Zufuhr» für den Tanz, wünscht sich neue Formen im Konzert und sagt (im «Tagblatt»-Interview) wörtlich: «Es muss neue Impulse geben, damit die Leute das Gefühl bekommen, es ist etwas los im Theater St.Gallen, es lohnt sich, dorthin zu gehen.»

Muss gehen: Kinsun Chan.

War also bisher «nichts los»? Für die heute am Theater Tätigen müssen sich solche Äusserungen wie eine Ohrfeige anhören. «Nein, so ist es nicht gemeint», relativiert Jan Henric Bogen am Telefon. «Das ist keine Bewertung der jetzigen Arbeit, sondern ein Blick darauf, was kommt.» Es gehe ihm nicht darum, die Arbeit seiner heutigen Kollegen oder Vorgänger zu be- oder verurteilen, sondern sich auf die Herausforderungen vorzubereiten, die auf Konzert und Theater St.Gallen zukämen.

«Wir hatten über lange Jahre eine grosse Konstanz und ein paralleles Nebeneinander der Sparten am Haus. Die Sparten fortan mehr zusammen zu denken und thematisch zu fokussieren, ist der Beweggrund für die Strukturänderung durch den Verwaltungsrat gewesen. Diesen Auftrag möchte ich mit Leben füllen.»

Wird verlängert: Modestas Pitrenas.

In all dem sei sein Bestreben, «einen Ausgleich zwischen Erneuerung und Konstanz zu finden und die Kunst zu stärken», ergänzt Bogen. In diesem Sinn habe er sich dafür eingesetzt, den Tanz aus seiner dem Musiktheater untergeordneten Stellung zu befreien und den bei Publikum und Musikern hochgeschätzten Chefdirigenten Modestas Pitrenas «zu stärken und sichtbarer zu machen».

«Theater gibt es nur, wenn es im Moment passiert – und sich immer wieder verändert», sagt Bogen. Für einen Neuanfang in allen Sparten sei der Zeitpunkt ideal: 2023 wird das renovierte Theatergebäude neu eröffnet, und dies, so Bogen, in einer hoffentlich pandemiefreien Zeit, wo es auch darum gehe, Publikum zurück- und neu zu gewinnen.

Die Frage bleibt: Wären Neuerungen und Inspirationen nicht auch mit zumindest einem Teil der bisherigen Leitung möglich? Fehlende Lust auf Neues kann man den jetzt nicht mehr erwünschten Spartenchefs jedenfalls nicht vorwerfen, weder Chan noch Scheiber noch Knecht.

Acht (beziehungsweise sieben) Planeten

Mit der Kündigung von Scheiber und der Nichtverlängerung von Chan verbunden ist ein neues Leitungsmodell: Um Bogen in der Mitte kreist künftig eine achtköpfige Geschäftsleitung. In ihr vertreten sind die Spartenleiter:innen von Oper (Bogen selber), Schauspiel und Tanz, der Chefdirigent oder die Chefdirigentin, die Leitungen von Dramaturgie, Technik und Disposition sowie der oder die Finanzchef:in.

Gestärkt werde damit insbesondere die Dramaturgie, die neu nicht mehr nach Oper, Schauspiel und Tanz aufgeteilt ist, sondern einen gemeinsamen Pool bildet. Der Hintergrund: Bogen will die Spielpläne unter jeweils ein gemeinsames Thema stellen, zu dem alle Sparten ihren Beitrag leisten sollen. Damit soll das Haus stärker als bisher als Einheit wahrgenommen und, in den Worten der Medienmitteilung, «die Rolle der Kulturinstitution im gesellschaftlichen Diskurs gestärkt» werden.

Ebenfalls verbindlich für das ganze Haus sollen die «Querschnitt-Werte» Partizipation, Diversität und Nachhaltigkeit gelten. Daran werden in den kommenden Monaten gemäss Medienmitteilung interne Arbeitsgruppen arbeiten.

Die Frage ist: Kann man Mitarbeitende für Zukunftspläne motivieren, die vielleicht nächstens ihren Job am Haus verlieren werden? Denn alle Theatererfahrung zeigt: Neue Chefs wollen eine eigene Handschrift entwickeln – mit eigenem Personal.

«Der grösste Teil der Mitarbeitenden wird selbstverständlich bleiben»: Jan Henric Bogen.

Jan Henric Bogen relativiert: «Der grösste Teil der Mitarbeitenden wird selbstverständlich bleiben.» Bereits bei seinem Amtsantritt als Operndirektor habe er die künstlerischen Verträge «mit grossem Augenmass behandelt. Das plane ich auch zukünftig so zu tun.» Dies betreffe unter anderem den Einjahresvertrag von Kinsun Chan, den er aktiv zweimal verlängert habe. Veränderungen in den künstlerischen Ensembles seien allerdings branchenüblich und gehörten zum Selbstverständnis des künstlerischen Personals: «Sie alle wissen, dass sie mit befristeten Verträgen angestellt sind.» Dennoch hoffe er, dass möglichst viele Mitarbeitende sich in den Arbeitsgruppen engagieren.

Partizipation? Hierarchie!

Partizipation wird offiziell grossgeschrieben im zukünftigen Modell. Zugleich aber ist die Hierarchie klar: In der Mitte der gesamtverantwortliche Direktor, im nächsten Kreis die achtköpfige Geschäftsleitung, ihr unterstellt wiederum die einzelnen Abteilungen. Sieht so Partizipation auf Augenhöhe aus?

Bogen widerspricht: Hierarchie sei der falsche Begriff. Das Modell definiere Verantwortungskreise, nicht Hierarchien.

Seine Funktion sei die eines Gesamtverantwortlichen Direktors. Diese Verantwortung in einem Konfliktfall auch wahrzunehmen, müsse möglich sein, sonst werde er seiner Aufgabe dem Verwaltungsrat gegenüber nicht gerecht. Er setze jedoch auf eine gelebte Hauskultur, in der diese Position und das damit verbundene Vetorecht so wenig wie möglich eine Rolle spielen sollen.

«Ich werde nicht allein der Motor sein, ich brauche die Inspiration des Leitungsgremiums und glaube daran, dass ein Mehrspartenhaus mehr ist als die Summe seiner Abteilungen», sagt Bogen. Das neue kollektive Modell entspreche im wesentlichen jenen am Theater Basel oder in Luzern.

Die Frage bleibt: Ist Partizipation mehr als ein Schlagwort, wenn zugleich die Hierarchie verstärkt wird? Sind demokratische Entscheide möglich, wenn der Direktor und sein CFO das letzte Wort haben? Und finden sich künstlerisch herausragende Persönlichkeiten, die sich für St.Gallen bewerben, obwohl die bisherigen Direktionen zu Spartenleitungen heruntergestuft werden und der Opernchef in Personalunion auch Gesamtverantwortlicher Direktor ist?

Zu den Ensembles kein Wort

Vorderhand bleibt der Eindruck: Jan Henric Bogen macht das, was der Verwaltungsrat von Konzert und Theater St.Gallen von ihm erwartet hat. Er krempelt das Haus nach dessen Vorstellungen um. Bogens bisherige Entscheide sind und waren direktiv – ob und wann er die Kurve zum versprochenen partizipativen Weg findet, muss er erst noch beweisen.

Und die vielen von der Umwälzung betroffenen Schauspielerinnen, Tänzer und Sängerinnen, die für das Publikum das Aushängeschild des Theaters sind? Zu ihnen fällt kein Wort – weder vom Verwaltungsrat noch vom Gesamtverantwortlichen Direktor.