Blut am Zucker

Selten so viele Stellen angestrichen in einem Buch, mit Bleistift… Die Autorin wird das vermutlich nicht interessieren, schon gar nicht beruhigen. Sie zweifelt immer wieder an ihrem Schreibunterfangen; das Zweifeln oder besser: das Ringen um die Methode ist geradezu selber Methode, ist einer der vielen roten Fäden in diesem Buch.
«Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material zu einer Fallstudie lesen wird», fragt die Ich-Stimme zum Beispiel auf Seite 205. Meinerseits kein Zweifel: Es lohnt sich, zu folgen, bis hierher und bis zum Schluss, und dann am besten nochmal von vorne anzufangen.
Alles wissen wollen
Man folgt Elmiger mit wachsender Spannung, verstrickt sich mit ihr im «Gestrüpp» ihrer Recherche, wie es gleich im zweiten Satz heisst. Worum diese Recherche geht, dazu fallen zwei Seiten weiter ein paar erste «behelfsmässige Erklärungen»:
Der philadelphische Parkplatz (NEW WORLD PLAZA).
Das Begehren.
Zucker. LOTTO, Übersee.
Später einmal lauten die Stichworte, diesmal als «unbeholfen» bezeichnet, so:
DIE EROBERUNG DER NATUR ODER DER JUNGFRAU
DAS GEWALTSAME VORDRINGEN IN NEUE GEBIETE (ÜBERSEE)
DER HUNGER ALS VERFASSUNG
DIE LIEBE usw.
Ein andermal ist die Rede davon, es könnte darum gehen, einfach «alles» aufzuschreiben, und das wäre genug. Später dann das Geständnis: «Ich möchte ja grundsätzlich immer alles sehen, was es gibt.» Das macht die Waghalsigkeit dieses Buchs klar, zehn Jahre nach Elmigers Erstling mit dem Titel Einladung an die Waghalsigen. Damals ging es um zwei Schwestern und ein dystopisches Zukunftsszenario – jetzt geht es um die kollektive Vergangenheit als persönliche Gegenwart, ums Wissen, zumindest ums Sehen. Und zwar möglichst: alles.
Wer Elmiger folgt, bekommt zwar nicht alles, aber Stück um Stück die Ereignisse und Orte hinter den vorerst kryptischen Stichworten geliefert. Das zentrale Bild, «der Platz, der Punkt, von dem ich vor vier oder fünf Jahren ausgegangen bin», ist eine Versteigerung in einem Säli in Thun, 1986. Hier kommen unter anderem zwei Frauenfiguren aus Ebenholz oder aus blank poliertem Stein unter den Hammer, kniende, schwarze, «exotische», nur mit einem Hüfttuch bekleidete Figuren, die kaum Interesse finden und für 35 Franken weggehen.
Diese Szene, der Erzählerin nur aus einem Dokumentarfilm bekannt, ist der Kern. Eine «gewissermassen unlösbare Szene» sei es für sie, darum in immer neuen Anläufen Anlass zu «neurotischen Pilgerfahrten». Die man genauso gut «politische» Pilgerfahrten nennen könnte, weil in dieser Szene und den Wellen, die sie im Buch wirft, jüngere Schweizer Geschichte und koloniale Zusammenhänge, Kleinbürgerträume und real existierender Kapitalismus, Privates und Politisches vielleicht «unlösbar», aber literarisch umso fruchtbarer aufeinanderprallen.
Die Skulpturen des Lottokönigs
Die Frauenfiguren stammen wie das ganze Versteigerungsgut aus dem Besitz des ersten Schweizer Lottomillionärs, Werner Bruni, vom «Blick» zum «Lottokönig» hochgeschrieben, ältere Semester wie ich erinnern sich an die Schlagzeilen von damals. Ein Klempner und Krampfer, der sein Geld seinem Chef zur Verwaltung anvertraut und in wenigen Jahren nicht nur das Geld wieder los ist und Konkurs geht, sondern auch aus seinem Leben herausgerissen wird: Man könne mit den Kollegen nicht mehr reden, «die schauen einen als schwarzes Schaf an», sagt Bruni im Film über seine «furchtbare plötzliche Freiheit».
Das Glücksspiel als Befreiungsschlag der «kleinen Leute», als das «ins Unpolitische gewendete Hoffen auf Emanzipation» oder auch als «kleine Form von Verschwendung, die sich die Arbeiterin und der Kleinbürger erlauben», Ausgeburt eines Kapitalismus, der auf die «vielfache Spaltung des sogenannten Proletariats» angewiesen sei, und Werner Brunis Lottosieg als «Sprung über den Spalt hinweg»: Solche Bezüge sind der Autorin einige scharfsinnige Überlegungen wert.
Zentral aber ist die «Übersee»-Thematik. Einmal reist der Lottokönig nach Haiti, von dort könnten die knienden Frauenfiguren kommen, oder eher aus Kenia, wo er früher schon hingeflogen ist, die Figuren stehen jedenfalls schon länger auf einem Ehrenplatz über dem Fernseher.
In Haiti, früher Saint-Domingue, spielt auch Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo, in der ein Schweizer Soldat in französischen Diensten sich in die junge dunkelhäutige Revolutionärin Toni verliebt und sie am Ende erschiesst. Ein «furchtbares» Buch: Das ist das Urteil von F., dem seinerseits aus der Karibik stammenden amerikanischen Freund der Ich-Erzählerin, mit dem sie auf der NEW WORLD PLAZA in Philadelphia die vietnamesische Süssspeise banh da lon isst und ihre eigene Mitverwicklung in die Zusammenhänge von Zucker und «Neuer Welt», von Begehren und Ausbeutung erkennt.
Die haitianische Revolution, historischer Hintergrund von Kleists Novelle, führt im Buch wiederum zu deren Anführer Toussaint Louverture, der im französischen Fort de Joux nahe der jurassischen Grenze 1803 umkommt – eine zentrale Episode der Sklavereigeschichte, die unter anderen der St.Galler Historiker Hans Fässler aufgearbeitet hat.
Mit Haiti ist man definitiv beim Zucker, beim fatalen Dreieckshandel mit Sklaven, die aus Afrika in die Karibik verkauft wurden, um dort auf den Zuckerrohrplantagen zu schuften. Und dank Elmiger kann man sich aus dieser welt-politischen Skandalgeschichte seinerseits nicht einfach fein raushalten, sondern wird Stück für Stück, Zuckerstück um Zuckerstück in sie mit hineinverstrickt.
Ekstasen des Begehrens
Nur einer lässt sich nicht verstricken: C., um den sich die Erzählerin mit allen Früchten dieser Welt und anderen kulinarischen Verführungskünsten (pochierte Wachteleier, geschmolzene Kuvertüre) bemüht, C., der keine eigene Stimme hat, der durch dieses Buch als Objekt des «Begehrens» irrlichtert, ein Faden, den ich als Leser nicht so richtig zu fassen kriege.
Aber auch der Autorin geht es, je länger das Buch dauert und je mehr Fäden da sind, zunehmend so, dass sie «alle möglichen Dinge nicht mehr an ihrer eigentlichen Stelle unterbringen» kann.
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik. Hanser Verlag München 2020, Fr. 33.90.
Lesung in St.Gallen: 30. Oktober, 20 Uhr, Kultbau St.Gallen,
Tatsächlich ist es viel, zu viel möglicherweise, um in bloss einem Buch untergebracht zu werden. Ortega y Gasset und seine Essays Über die Liebe, Teresa von Avila und ihre Bekenntnisse spannen den Faden des Begehrens auf. Teresas Ekstasen werden mit Flora Tristans Reise nach Kap Verde, 1833, enggeführt und zu einer Mikrogeschichte der emanzipatorischen weiblichen Ekstatik verknüpft. Chantal Akermans Filme liefern die Bilder dazu, Ellen West die tragische Dimension.
Demgegenüber die Männer: Die Lektüre von Max Frisch verführt die Erzählerin zu einer Reise mit F. nach Montauk, wo sie wiederum auf (von Frisch ignorierte) koloniale Narben stösst. Mit dem Tänzer Vaclav Nijinski kreuzen sich ihre Wege auf dem Atlantikdampfer S.S. Avon und in der Psychiatrischen Klinik Bellevue in Kreuzlingen.
Die Geschichte der Pathologisierung des Begehrens, wie sie in den diversen Episoden aus der Psychiatrie anklingt, bleibt dabei fragmentarisch. Dafür führen die Aufzeichnungen immer wieder zum und über den Atlantik, stellt die Erzählerin einmal selber überrascht fest – und dieses transatlantische Netz «berührt mein Anliegen in seinem Innersten». Dieses Anliegen ist zumindest ein doppeltes: inhaltlich die Geschichte des Zuckers, süss und tödlich. Und methodisch das Handwerk des Erzählens, gestrüppreich und erlösungsbedürftig.
Flackernde Konstruktionen
Elmigers Erzählkunst besteht darin, dass sie selber, Stück um Stück, im Leser das «Begehren» weckt, nach Zucker ebenso wie nach Wissen. Sie erzählt nicht geradlinig, weil das überquellende Material dieses Buchs so gar nicht zu erzählen wäre, sondern in «flackernden, schwierigen Konstruktionen», «dunklen Strudeln», mittels «Transpositionen», atemstockenden Blickwechseln und einer an die Traumlogik erinnernden Assoziationslust.
Schon die Kapiteltitel, allesamt Ortsbezeichnungen, flirren. Sie erzählen von der Idyllisierung des Grauens: «Sans Souci», «Bellevue», «Plaisir», «Port-Salut», «New World Plaza»…
Das Buch müsse am Ende im Untertitel «Roman» heissen, fordert der Lektor einmal, als ihn die Erzählerin in München trifft. Sie hält dagegen, schlägt «Recherchebericht» vor – jetzt erscheint das Buch ohne Gattungsbezeichnung, ein Hinweis auf die Autorität, welche Elmiger selbst gegenüber einem Hanser-Verlag offensichtlich hat.
Romanhaftes spielt dennoch hinein, die nächtlichen Aufwach- oder Einschlafszenen zwischen Wachen und Traum sind von dieser Art, oder Figuren wie F. – ihn habe es «tatsächlich einmal gegeben», auch wenn ihn die Erzählerin inzwischen «längst neu erfunden habe für die Zwecke dieser Aufzeichnungen», wie sie einmal zugibt.
Die Qualität dieses Erzählens ist es, dass es «alles sehr persönlich» nimmt und sich selber so zurückhaltend wie radikal einbezieht in das Erzählte. Die Faktenlage ist dabei solid, die mehrseitigen Quellenangaben am Schluss tun das ihre dazu. Nicht das Ich steht im Zentrum, sondern der Skandal einer jahrhundertlangen globalen Sklavereigeschichte, von der noch immer und besonders hierzulande viele glauben, nichts mit ihr zu tun zu haben. Indem Elmiger Literatur selber zur «Zuckerfabrik» macht, leistet sie ein Stück Rehabilitation für die Opfer dieser Zuckergeschichte.