Bestehende Ordnungen brechen

Das Werk Songs for the Storm to Come von Mikhail Karikis, aus dem Jahr 2024 (Bild: pd/Kunstmuseum St.Gallen)

Mit Mikhail Karikis hat das Kunstmuseum St.Gallen nicht nur seine bislang grösste Einzelausstellung, sondern auch Räume für alternative Perspektiven und spekulative Utopien eröffnet.

Das viel­schich­ti­ge Œu­vre des grie­chisch-bri­ti­schen Künst­lers Mikhail Ka­ri­kis lässt sich kaum in sei­ner Ge­samt­heit er­fas­sen. Ka­ri­kis, der in­zwi­schen in Lis­sa­bon lebt und ar­bei­tet, wur­de an der Bart­lett School of Ar­chi­tec­tu­re so­wie an der Sla­de School of Fi­ne Art in Lon­don aus­ge­bil­det. Hier lern­te er, ar­chi­tek­to­ni­sches Den­ken mit ei­ner for­schungs­ba­sier­ten, in­ter­dis­zi­pli­nä­ren Kunst­pra­xis zu ver­bin­den – ein Merk­mal, das sich in sei­nen im Kunst­mu­se­um St.Gal­len aus­ge­stell­ten Ar­bei­ten im­mer wie­der zeigt. 

Über zwei Jahr­zehn­te hin­weg ent­wi­ckel­te Ka­ri­kis ein Port­fo­lio, das sich zwi­schen Film, Sound, Per­for­mance und In­stal­la­ti­on be­wegt und re­gel­mäs­sig in re­nom­mier­ten In­sti­tu­tio­nen wie der Ta­te, dem Mo­ri Art Mu­se­um oder an der Bi­en­na­le von Ve­ne­dig zu se­hen ist. Im Zen­trum sei­nes Schaf­fens ste­hen so­zia­le, po­li­ti­sche und öko­lo­gi­sche Fra­gen, die Ka­ri­kis mit äs­the­ti­scher Prä­zi­si­on und an­ti­the­ti­scher Span­nung be­ar­bei­tet. Statt fer­ti­ger Bot­schaf­ten bie­tet er Denk- und Klang­räu­me, die zum Mit­den­ken ein­la­den. Die­se Form kri­ti­scher, im­mersi­ver Kunst­pro­duk­ti­on prägt auch die Aus­stel­lung in St. Gal­len, die als Mid-Care­er-Re­tro­spek­ti­ve an­ge­legt ist und ne­ben be­kann­ten Ar­bei­ten ein neu­es Auf­trags­werk zeigt: A Uni­ver­se of So­lu­ti­ons

Ausstellungsansicht des Werkes  A Universe of Solutions  von Mikhail Karikis aus dem Jahr 2025  (Bild: pd/Stefan Altenburger)

Die­se Vi­deo­ar­beit ent­stand in Zu­sam­men­ar­beit mit jun­gen Mu­si­ke­rin­nen des Ju­gend­sin­fo­nie­or­ches­ters St.Gal­len und ist zu­gleich ei­ne Hom­mage an die bru­ta­lis­ti­sche Ar­chi­tek­tur des Thea­ters St.Gal­len. Ka­ri­kis reis­te über meh­re­re Mo­na­te hin­weg im­mer wie­der in die Ost­schweiz, um ei­ne fil­mi­sche Kom­po­si­ti­on zu ent­wi­ckeln, in der mu­si­ka­li­sche und sprach­li­che Zu­kunfts­vi­sio­nen zu ei­nem Klang­bild ver­schmel­zen. Die Sta­tis­tin­nen tra­gen da­bei Klei­der des St.Gal­ler Hau­te-Cou­ture-Un­ter­neh­mens Akris – ei­ne wei­te­re Re­fe­renz an die Re­gi­on. 

Öko­lo­gien des Elends und neue Hoff­nung

Ka­ri­kis setzt künst­le­risch dort an, wo be­stehen­de Ord­nun­gen ins Wan­ken ge­ra­ten – nicht aus ei­ner Po­si­ti­on des Ur­teils, son­dern aus dem Wunsch her­aus, Auf­merk­sam­keit zu er­zeu­gen. Sei­ne Ar­bei­ten bie­ten kei­ne ab­schlies­sen­den Lö­sun­gen, sie er­öff­nen Räu­me des Fra­gens und Zwei­felns. Sich selbst als künst­le­ri­scher Ak­ti­vist ver­ste­hend, setzt sich Ka­ri­kis ge­gen viel­fäl­ti­ge For­men von Un­ge­rech­tig­keit ein und the­ma­ti­siert in sei­nem Schaf­fen das Pa­tri­ar­chat als ein brü­chig ge­wor­de­nes Sys­tem. Wie­der­holt ar­bei­tet er mit lo­ka­len Ge­mein­schaf­ten, Kin­dern und Ju­gend­li­chen, um kol­lek­ti­ve Stim­men hör­bar zu ma­chen. Stim­men, die oft mar­gi­na­li­siert, ver­ges­sen oder un­ter­drückt wer­den. Wer­ke wie Sea­Wo­men por­trä­tie­ren ei­ne Ge­mein­schaft äl­te­rer Tau­che­rin­nen der Hae­nyeo-Kul­tur auf der süd­ko­rea­ni­schen In­sel Je­ju.

Das sub­ver­si­ve Po­ten­zi­al zeigt sich be­son­ders deut­lich in je­nen Ar­bei­ten, die aus der Per­spek­ti­ve von Kin­dern er­zäh­len. Mit der zwi­schen 2013 und 2014 ent­stan­de­nen Ar­beit Child­ren of Un­quiet ent­wirft er ei­ne post­in­dus­tri­el­le Ge­gen­uto­pie, in der Kin­der ein ver­las­se­nes Ar­bei­ter:in­nen­dorf spie­le­risch zu­rück­er­obern und da­bei ge­sell­schaft­li­che Hier­ar­chien auf den Kopf stel­len. Ka­ri­kis nimmt Kin­der in sei­nem Werk ernst und schreibt ih­nen ein re­vo­lu­tio­nä­res Po­ten­zi­al zu: als neue Ge­ne­ra­ti­on und als Hoff­nungs­trä­ger:in­nen ge­sell­schaft­li­cher Er­neue­rung. 

Sounds für den Wan­del

Ka­ri­kis denkt Ge­sell­schaft als viel­stim­mi­ge Ka­ko­pho­nie, die von den ver­schie­de­nen Teil­ge­mein­schaf­ten und de­ren Be­zie­hun­gen zur be­leb­ten Na­tur er­zeugt wird. In der Ar­beit Sounds from Be­neath, die den the­ma­ti­schen Rund­gang durch Ka­ri­kis’ Schaf­fen er­öff­net, las­sen ehe­ma­li­ge Berg­leu­te das längst ge­schlos­se­ne Koh­le­berg­werk Til­m­an­stone in Süd­eng­land durch ih­re Stim­men wie­der auf­le­ben. Aus Er­in­ne­run­gen ent­ste­hen Ge­räu­sche, aus Ge­räu­schen ein kol­lek­ti­ver Ge­sang – ein akus­ti­sches Denk­mal an Ar­beit, an Ver­lust von Ar­beit und Exis­tenz­grund­la­gen, aber auch an ge­mein­schaft­li­chen Wi­der­stand. Die­se zu­nächst mas­ku­lin ge­präg­te Sicht auf Ge­mein­schaft im Sin­ne ei­nes Ar­bei­ter­ethos wird beim Durch­schrei­ten der wei­te­ren Aus­stel­lungs­räu­me durch fe­mi­nis­ti­sche Per­spek­ti­ven und viel­stim­mi­ge Klang­kör­per er­gänzt und er­wei­tert. Das Werk Songs for the Storm to Co­me ist bei­spiels­wei­se ei­ne Ko­ope­ra­ti­on mit dem SHE Choir aus Man­ches­ter für Frau­en und nicht­bi­nä­ren Per­so­nen. Es macht kol­lek­ti­ve Emo­tio­nen und klang­li­che Vi­sio­nen des ge­sell­schaft­li­chen Wan­dels im An­ge­sicht der Kli­ma­kri­se hör­bar.

Ka­ri­kis Pra­xis ist ein Plä­doy­er für ei­ne so­li­da­ri­sche Zu­kunft – ins­be­son­de­re in Mo­men­ten ge­sell­schaft­li­cher Ero­si­on, in Zei­ten po­li­ti­scher Un­ru­hen oder dort, wo Pro­test un­mög­lich er­scheint. Wer spricht? Wer wird ge­hört? Und lässt sich die­ses Pa­ra­dig­ma um­keh­ren? Ka­ri­kis be­geg­net die­sen Fra­gen mit poe­ti­schem Op­ti­mis­mus und er­hebt sei­ne Kunst da­mit selbst zur Hoff­nungs­trä­ge­rin in Zei­ten der Ver­un­si­che­rung. 

«Voices, Com­mu­ni­ties, Eco­lo­gies»: bis 27. Ju­li 2025, Kunst­mu­se­um St.Gal­len 

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