Besonders behindert

Wieso Dora oder Die sexuellen Neuosen unserer Eltern nicht nur der schlechteste Spielfilm des noch jungen Jahres ist, sondern auch noch gefährlich – Ein Diskussionsbeitrag von Thomas Spitzer.
Von  Gastbeitrag

Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern handelt von der gleichnamigen geistig behinderten Teenagerin, die 18 wird, ihre Sexualität erkundet, sich auf einen Geschäftsmann einlässt und schliesslich ein Kind bekommt. Dabei stellt der Film wichtige Fragen zum Thema Behinderung und Sexualität. Wann darf eine Tochter Verantwortung übernehmen für ihren Körper? Inwiefern ist der Sex einer behinderten Person mit einer normalen «pervers»? Wie viel Psychopharmaka sind zu viel? Und: Warum werden Behinderte sozial ausgegrenzt?

Das heisst: Der Film hätte diese Fragen stellen können, hätte das ihm zugrunde liegende Drehbuch nicht einen fundamentalen Fehler, denn: Bei Doras Sexualpartner Peter handelt es sich nicht um einen romantischen Liebhaber, sondern schlicht um einen Vergewaltiger. Doras erster Kontakt mit Peter ist eine Vergewaltigung. Er sagt – nachdem sie ihm auf die Toilette gefolgt ist: «Lutsch mal an meinem Stängel, dann kauf’ ich dir ein Eis.» Und das, während er ihr mit eben diesem Stängel im Gesicht herumfuchtelt, während Dora mit herunter gezogener Hose auf der Kloschüssel sitzt, um sie anschliessend auf dem Toilettenboden zu penetrieren.

Auch ihre weiteren Treffen sind keine sexuellen Abenteuer, sondern moralisch höchst fragwürdig, und gipfeln schliesslich darin, dass Peter, der eben kein «Verführer» (NZZ), sondern ein psychopathischer Vergewaltiger ist, die schwangere Dora dazu zwingt, harten Alkohol zu trinken und einen Freund oral zu befriedigen.

Perfide dabei ist, wie Peter immer wieder – zum Beispiel im Kontrast zur durchweg verbitterten Mutter (deren berechtigter Hass auf ihn als «sexuelle Neurose» verniedlicht wird) – zum Sympathikus wird, zu einer Art progressivem Rohling, der vermeintlich mit seinem direkten Charme («Ich will einfach nur deine Tochter ficken») gesellschaftliche Grenzen überwindet.

Was wie eine Mischung aus Bridget Jones und Forrest Gump beworben wird (und sich in der ersten halben Stunde auch so anfühlt), entwickelt sich zu einem geschmacklosen wie diffusen Potpourri der Themen und Eindrücke. Plötzlich nämlich wird eine Vergewaltigung als Liebe verkauft. Es ist, als würden die Erzähler krampfhaft versuchen, einen Faden zu verlieren, der zu rot geworden ist, während Dora selbst, die durchaus eine starke Figur hätte sein können, zur Opferrolle verkommt und ihre Behinderung einzig zur Beeinträchtigung.

Man könne nett sein und sagen, der Film scheitere an seinen Ansprüchen, er wolle schlichtweg zu viel. Aber auch das wäre falsch, ist die Behinderungsthematik hier grundsätzlich schlecht recherchiert.

Ich habe ein Jahr in der Pflege gearbeitet und lehne mich nun weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass keine normale Mutter einer behinderten Tochter auf der ganzen Welt jemals etwas sagen würde wie: 1. «Du bist nicht behindert. Du bist besonders.» 2. «Was? Sie haben Mongo zu dir gesagt? Hör zu, mein Kind. Das dürfen die nie sagen! Du bist kein Mongo.» 3. «Es ist keine Sekunde vergangen in meinem Leben, in der ich mir nicht gewünscht hätte, mein Kind sei normal.»

Eine Behinderung ist eine medizinische Beeinträchtigung. Es ist kein Weltuntergang aber auch keine romantische Metapher. Und eigentlich bietet gerade der Independentfilm mit seinen schwarzhumorigen Dialogen und präzisen Charakterstudien alle nötigen Werkzeuge, um sich dem Thema adäquat zu nähern – siehe Die Kunst des negativen Denkens oder Das Meer in mir.

Dora tut dies nicht, mehr noch, der Film scheitert auf ganzer Linie. Da hilft auch die fantastische Kamera-, Licht- und Schauspielarbeit nichts. Das einzig provokante daran ist die Schamlosigkeit, mit der die Filmemacher das Thema Behinderung missbrauchen – nämlich als Kulisse für ihre eigene Arroganz.

 

Thomas Spitzer, 1988, ist ein freier Autor, Poetry Slammer und Kultur-Manager aus Regensburg.