Befreiung, Chaos, Untergang

Irgendein Juror bei irgendeinem Literaturpreis sagte einst: «Das hier ist ein hochdifferenzierter Text über die Entdifferenzierung.» Es ging dabei zwar nicht um das neuste Album der Nerven, lässt sich aber gut dafür adaptieren. Ebenso das Albumcover von Fake selbst: poröses, pixeliges, dichtes Orange mit Lichteinfall über dem linken oberen Rand. Der Titel steht in der Mitte, schwarz und ebenfalls verpixelt wie ein schlechtes altes Handyfoto.
Es fällt trotz oder wegen seiner Reduktion auf und ist eine ziemlich gute Metapher für den musikalischen Inhalt. Stellenweise unscharf und rauh, danach oder darüber sanft und offen. Insgesamt ein düsterer staubiger Tunnel, bei dem an vielen Stellen die Decke kaputt ist und der Himmel durchscheint mit sämtlichen erfreulichen Nebeneffekten wie plötzlicher Wärme oder Lichtstreifen an den Wänden. So bildhaft wie abstrakt, so eingängig wie lärmig.
Diffuse Zustände in präzisen Halbsätzen zu beschreiben und die Ambivalenzschere so weit es geht zu öffnen, gehört zur Spitzendisziplin der Nerven. Darum ging es schon auf den Vorgängeralben, aber auf Fake wird es expliziter. Die Geschichten werden nicht allein oder ausführlich in den Texten erzählt, sondern in der Gesamtwirkung.
Frei ist so ein Stück: Der Sänger schreit: «Lass alles los, gib alles frei, nichts bleibt.» Dann setzt ein groovender Basslauf ein und die Wut wird plötzlich geniess- und tanzbar. Es ist kein absehbar wütender Punk, kein zähflüssiger Diskurspop und kein treibender Indierock.
Es ist die hochdifferenzierte Selbstzüchtung eines Mischwesens aus all dem, und sein Futter sind Fragen der persönlichen und zeitgeistigen Identität. «Skandinavisches Design und Depressionen / Musik, Mode, Meinung für Millionen / Mein Style wurde mir auf Amazon empfohlen.» Dann eine riesige Noisewucht. Friedlich und leicht wie ein beruhigender Anti-Sinnspruch klingt dagegen die Zeile «Finde Niemals zu dir selbst» im zweiten Stück.
Fake erschien im April 2018 bei Glitterhouse Records und ist nach Fluidum, Fun und Out das vierte Studioalbum des Stuttgarter Trios. Abgesehen davon sind Julian Knoth (Gesang, Bass), Max Rieger (Gesang, Gitarre) und Kevin Kuhn (Schlagzeug) alle auch in anderen Bands tätig oder widmen sich Kooperationen, wie 2016 dem Live-Soundtrack zum Theaterstück Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 an der Berliner Schaubühne.
Die Nerven und Asbest:
31. Oktober, 20 Uhr, Palace St.Gallen
palace.sg
Und bei aller Metaphern- und Zitiertauglichkeit sind die Nerven in erster Linie eine grandiose Liveband. Eine, die sich konstant weigert, einen gefestigten Stil zu fahren, solange es noch so viel zu entdecken und entwickeln gibt. Auf der Bühne verwandelt sich diese Suche für die jeweilige Set-Zeit in direkte Energie. Im Palace macht den Auftakt des Abends die wütendste Band vom Rheinknie: das Trio Asbest.
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.