Bedächtig, aber konsequent
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Alles ist bedächtig und ruhig. Das Publikum, die Luft im Raum für Literatur und die Autorin Ursula Fricker, während sie aus ihrem dritten Roman «Ausser sich» liest. Ihre Beine ruhen unter dem Tisch, die Hände darauf. Der Buchanfang ist genauso. Er fühlt sich an, wie eine wattige Sonntagserinnerungen, wie ein Hochsommermorgen, der mit Kaffeeduft anhebt. Alles ist kugelrund und glücklich. Doch dann hat Sebastian ein Unfall.
Ursula Fricker liest konzentriert und weich. Die Schaffhauserin die schon lange in Berlin lebt, sagt «Bioschemisch» und «Ne, ne», aber sonst ist die Schweizer Klangfarbe noch da. Sie wirkt ganz bei sich. Das einzige was an diesem Abend «Ausser sich» bleibt, ist der Titel des Buches. Erzählt wird darin aber auch nicht eine irre Geschichte, die total abgefahren und hinüber ist, sondern eine Geschichte die unerträglich ist und Fragen stellt, die man sich nicht zu stellen erlaubt.
Katja, Sebastians Frau, hat von Jetzt auf Nun einen anderen Mann. Die starken Hirnblutungen haben aus Sebastian einen Menschen gemacht dessen Augen «leer in einem Winkel» hängen, einen Menschen mit Windeln und Speichelfäden bis auf die Brust. Er weiss nicht mehr, wer sie ist, wer er ist – er hat keine Erinnerungen mehr. Wäre es nicht besser, er würde gar nicht mehr …
Das Publikum stellt Fragen, nach dem richtigen Umgang mit diesen Menschen, die zwischen Leben und Tod gefangen sind, Fragen, nach der Teilbarkeit von Erinnerung und darüber, ob das schwere Thema nicht die sprachliche Ebene verdränge. Hier wird Ursula Fricker bestimmt. Sprache ist für sie nie Selbstzweck. Es sind die starken Themen, die sie zum Schreiben bewegen. Man könnte auch sagen: heftige Themen. Mit ihnen treibt sie uns nicht auf laute und emotionale Art an unsere Grenzen, sondern sie folgt ihnen bedächtig, faltet sie immer weiter auseinander, konsequent bis an die Denkränder.