Ausweglos in der Anstalt
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Zuerst hört man nur den Stock. Tok tok tok, durch den langen Gang kommt er näher, und dann ist er da, setzt sich ächzend auf den Stuhl im Besuchsraum des Altersheims, mitten unter uns Zuschauer. Wieder das Geräusch von Schritten, schnellen diesmal, die Schwiegertochter bringt Grüsse und Nüsse und eine Bastelarbeit der Enkelin. Es ist «Besuchszeit» im Heim. Zeit der Eskalation.
Rundherum Gruftgestank
Der Alte ist ein Nörgler, «Sturkopf» nennt er sich selber. Eben habe er dem Bundespräsidenten geschrieben: wie lausig das Essen im Heim sei und wie übel die Betreuung. Und jetzt kommt die Schwiegertochter dran, die alles falsch macht mit Mann und Kindern und Arbeit, und dann wieder das Heim: dieser «Einheitsgeruch, dieser Gruftgestank», nur alte Leute um einen herum und der Zimmernachbar ein Nazi. Drum ist er auch abgehauen, aber wieder zurückbugsiert worden von der Polizei. «Manchmal sitze ich einfach da, und auf einmal ist der ganze Nachmittag vergangen.»
Der Alte, Tobias Fend spielt ihn grandios, ist die perfekte Charakterstudie des grantigen, zwangsversorgten «Opas». Die Schwiegertochter hat den Tiraden des Alten nur Schweigen und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. Auch «draussen» ist keine Freiheit, sondern bloss eine graue Schwere. Kristine Walther macht das eindringlich spürbar. Und seit neustem, erzählt sie wie nebenbei, betrügt sie auch noch ihr Mann mit einer Jungen aus dem Geschäft.
Eingesperrt – in sich selber
Sie sind alle auf der Verliererspur, die Figuren in Felix Mitterers Besuchszeit. Nach dem Altersheim geht es im Gefängnis weiter, dann im «Narrenhaus», schliesslich im Spital. Eine Beklemmung folgt der nächsten, und dazu tragen die Räume Entscheidendes bei: Im Palais Bleu, dem ehemaligen Krankenhaus von Trogen, das nach der Schliessung zum Kultur- und Wohnhaus umfunktioniert worden ist, ahnt man in den Räumen im Untergeschoss noch den Ungeist der «Anstalt».
Besonders klaustrophobisch wird es in der Zuchthaus-Szene. Die Frau sitzt im Knast, 15 Jahre Haft, nachdem sie mit dem Messer auf ihren Mann losgegangen ist und ihn schwer verletzt hat. Jetzt kommt der Mann noch einmal zu Besuch, die Scheidung ist eingeleitet, den Kindern hat er verboten, «darüber» zu reden, er ist umgezogen «wegen der Nachred», sie nimmt alle Schuld auf sich und kann es nicht erklären, was sie getan hat, aber eigentlich weiss sie es doch: ein Leben ohne Aussicht, die Ehe nur noch Pflicht, ein Mann, der besoffen nach Hause kommt. Tage und Nächte, die sie nur noch mit Tabletten bewältigt.
Für einen Moment lang, beim Schwärmen über «Dallas» am TV, kommt eine Ahnung von Gemeinsamkeit auf, und dann bricht wieder alles auf: seine Wut auf sie, ihre Trauer, sein Hass auf die «Emanzen», die am Ende an allem schuld sind und die er am liebsten in die Gaskammern von Mauthausen schicken würde.
Angriff aufs «Hirnkaschtel»
Mitterers Figuren sind Täter ebenso wie Opfer ihrer familiären, aber auch der gesellschaftlichen Umstände. Dabei dreht das Stück, vielleicht zeitbedingt (der Text stammt von 1985) manchmal allzu plakativ an der Empörungsschraube. Der Ehemann in Teil zwei ist ein Faschist der übelsten Sorte. Und in Teil drei breitet der alte, psychiatrisch versorgte Bauer groteske Verschwörungstheorien und eine verquaste Gute-alte-Zeit-Romantik aus. Mit Tabletten, Spritzen und «Elektrisch» will man sein «Hirnkaschtel» kaputt machen: schwarze Psychiatrie von gestern.
Alle vier Szenen gehen an die Nieren. Das liegt am zupackenden Text und am intensiven Spiel, aber auch am Ort. In den engen Räumen sitzt das Publikum hautnah im Geschehen drin: im Esszimmer, in der Zelle, die tatsächlich früher die Krankenzelle des nahegelegenen Kantonsgefängnisses war, in einer alten Küche und am Ende im Flur. Da ist kein Entkommen, auch kein innerliches – die Dramen spielen mitten unter uns. Und sie haben, dem Zeitkolorit zum Trotz, teils an Aktualität noch gewonnen. Der irre Alte, der seine Tochter nicht mehr kennt und in lichten Momenten dann doch noch alles weiss, passt perfekt in die Zeit zunehmender Altersdemenz.
Besuchszeit von Felix Mitterer: 15. September 19 Uhr und 16. September 17 Uhr im Palais Bleu Trogen. 21. bis 23. September im Frauenmuseum Hittisau.
Zum Spiel vonTobias Fend und Kristine Walther, beide mit rustikalem österreichischem Dialekt, trägt Florian Wagner mit Cello, Handorgel und Gitarre atmosphärische Zwischenmusiken bei. Regie führt wie stets bei den Produktionen von Cafe Fuerte Danielle Strahm, assistiert von Lisa Jakob. Die (hier allerdings weitgehend schon vorhandene) Ausstattung stammt von Matthias Strahm.
Theater an Orten, wo sonst kein Theater ist: Dieser Devise folgt auch das jüngste Stück der freien Truppe. In einer psychiatrischen Klinik oder einem Altersheim würde sie Besuchszeit allerdings nicht spielen, sagt die Regisseurin – aus Respekt. Mit dem Palais Bleu habe man daher einen so idealen wie raren Spielort gefunden. Aufführungen gibt es noch zweimal in Trogen (die Platzzahl ist radikal beschränkt, eine Anmeldung deshalb unerlässlich) und danach im Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald.