Aus Schweiz vertrieben, von Nazis geköpft

In Gossau 1912 in eine katholische Schneiderfamilie geboren, zog der kleine Arthur Bernhard Vogt 1915 – der Vater war inzwischen in den böhmisch-österreichischen Kriegsdienst eingezogen worden – mit Mutter und Bruder nach St.Gallen. Nachdem der Vater zurückkehrte und nunmehr tschechoslowakischer Staatsbürger war, zog die Familie mehrmals um und lebte ab 1933 an der Kolosseumstrasse 21 im St.Galler Heiligkreuzquartier.
An dieser Stelle setzte der Verein Stolpersteine am Donnerstag einen Gedenkstein für Vogt. Der Verein ist Teil des weltweit grössten dezentralen Mahnmals der Welt im Gedenken an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt: In über 20 Ländern der Welt wurden in den vergangenen 30 Jahren rund 100’000 solcher Stolpersteine platziert. In der Schweiz wurden bisher in Winterthur, Zürich, Basel und Bern Stolpersteine gesetzt, ausserdem drei weitere – von der Initiative Stolpersteine für Konstanz – auch in Kreuzlingen und Tägerwilen. Für Stolpersteine Ostschweiz war dies der Auftakt.
Gemäss Forschungen von Jörg Krummenacher und Max Lemmenmeier ist Arthur Bernhard Vogt nur eines von vielen Ostschweizer Opfern des Nationalsozialismus. Die beiden Forscher, die ein Buch planen, haben mittlerweile über 170 Personen identifiziert, alleine 20 aus der Stadt St.Gallen. Und es werden vermutlich noch mehr.

Roland Richter setzt den Stolperstein für Arthur Bernhard Vogt an der Kolosseumstrasse 21 in St.Gallen. (Bild: hrt)
Gut 50 Interessierte, darunter eine Kantiklasse, fanden sich am Donnerstagvormittag an der einstigen Wohnadresse Arthur Bernhard Vogts ein. Er kam 1944 unter dem Fallbeil der Nazis um. Roland Richter, ehemaliger Präsident der Jüdischen Gemeinde St.Gallen und Koordinator des Vereins Stolpersteine Ostschweiz, organisierte den Gedenkanlass.
Es sprachen ausserdem Max Lemmenmeier, Jörg Krummenacher und Stadträtin Sonja Lüthi, ausserdem eine Nichte des Getöteten. Der St.Galler Rabbiner sang eindücklich einen Psalm, und Martin Amstutz spielte Bandoneon. Im Publikum fand sich auch einige Prominenz aus Politik und Verwaltung ein. Angereist sind auch Historiker Jakob Tanner aus Zürich und Hanno Loewy, Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems.
Der Schweiz eine Last, dem Reich ein Verräter
Arthur Bernhard Vogt wird als grossgewachsener, schlaksiger Mann mit abstehenden Ohren und löchrigem Gebiss beschrieben. Er litt an einem Sprachfehler. Nach der obligatorischen Schulzeit arbeitete er ab 1928 als Küchenbursche in Luzern, Davos, Rüschlikon und Castagnola. Wegen seiner gelebten Homosexualität geriet er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. 1929 schaffte ihn die Polizei in Davos in seine Wohngemeinde nach St.Gallen zurück, damals aufgrund der Armen- und Niederlassungsgesetzgebung eine übliche Praxis. Zuhause angekommen, machte sich der 17-Jährige rasch wieder aus dem Staub.
Die Familie galt im Quartier als auffällig, der Vater ein Säufer, die Mutter eine «Schwätzerin», wie die Kantonspolizei protokollierte. Das Bezirksgericht St.Gallen verurteilte den mittlerweile unter Vormundschaft gestellten jungen Mann wegen «grobunsittlicher Handlungen». Er soll anderen Männern «das Glied bis zum Samenerguss gerieben» haben für zwei bis sieben Franken.
Als die Schweiz ihre Niederlassungsbestimmungen in den 1930er-Jahren massiv verschärften und die Fremdenpolizei installierte, entzog sie Vogt, der wie sein Vater über den tschechoslowakischen Pass verfügte, die Niederlassungsbewilligung für die Schweiz und warf ihn aus dem Land. Begründet wurde die Massnahme mit wiederholten Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen.
Über Lustenau kehrte er in die Schweiz zurück, wurde dann gerichtlich in Zürich, Murten und Uznach jeweils zu einigen Tagen Gefängnis verurteilt, weil er die «Ausländervorschriften» verletzt habe. Er, der nie ausserhalb der Schweiz gelebt hat, geschweige denn auch nur ein einziges Wörtlein Tschechisch verstand.
Nach einer Verurteilung wegen Betrugs in Bern wurde er nach St.Gallen in die Strafanstalt St.Jakob überstellt. Das eidgenössische Polizei- und Justizdepartement forderte eine definitive Ausschaffung, die Bitte seiner Eltern, vor der Ausweisung nochmals drei Tage mit ihrem Sohn zu verbringen, schlug der Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, in den Wind. Weil die Familie nicht bereit oder in der Lage war, für die 46 Franken Transportkosten aufzukommen. Am 13. März gewährte man dem jungen Vogt immerhin noch einen dreistündigen Abschied.
Vogt war in jener Zeit kein Einzelfall: Allein 1937 sind gemäss st.gallischem Amtsbericht fast 3000 Personen wegen «Bettelns, Vagantität, Mittellosigkeit und ungenügenden Schriften» über die Grenze geschoben worden.
Aus Leipzig ersuchte Vogt 1939 zweimal schriftlich um die Aufhebung der Ausweisungsverfügung, die er mit einer bevorstehenden schweren Operation seiner Mutter begründete. Luzern liess ihn abblitzen, St.Gallen lenkte ein, allerdings zu spät: Soeben war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen und die Grenzen damit dicht.
1943 versuchte Vogt erneut bei Lustenau über die Grenze zu gelangen, wie schon neun Jahre zuvor. An der Grenze griffen in nationalsozialistische Sicherheitskräfte auf, inhaftierten in in Feldkirch, verbrachten aufgrund nicht ganz schlüssiger Aussagen und verurteilten ihn schliesslich wegen «Feindbegünstigung», weil er mit seiner Flucht in die Schweiz versucht habe, «seine Arbeitskraft dem Reiche zu entziehen».
Sein Abschiedsbrief, in dem er seine bevorstehende Hinrichtung andeutete, kam nie bei den Eltern an. Zwei Wochen nachdem Arthur Bernhard Vogt am 12. September 1944 sein Leben unter dem Fallbeil des Gefängnisses München-Stadelheim sein Leben gelassen hatte, schrieb seine Mutter ahnungslos an den Oberreichsanwalt, um ihren Sohn freizubitten. Sie erhielt nie eine Antwort.
In der Familie totgeschwiegen
«Ich wusste nichts von Onkel Arthur. In unserer Familie wurde diese Geschichte totgeschwiegen», erzählt am Donnerstagvormittag an der feierlichen Steinsetzung Monika Oberleitner-Vogt, die Nichte des Getöteten. Ihr Cousin Michael Fuchs habe sie auf die Geschichte aufmerksam gemacht. Er hat der Biografie Vogts zusammen mit dem Innbrucker Historiker Niko Hofinger eifrig nachgespürt und nach möglichen Verwandten in St.Gallen gesucht.
«Dieser Stolperstein ist die einzige Genugtuung, die wir heute noch leisten können», sagte Monika Oberleitner-Vogt. «Er ist ein Mahnmal, nicht nur für die Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch für die verstockte Stadtgesellschaft damals.»
Die Steinlegung in St.Gallen war erst der Auftakt für weitere Gedenkanlässe in der Ostschweiz. Der nächste Stolperstein soll im Frühling 2024 in Balgach gelegt werden. Er soll an den Schweizer Kaufmann Jakob Lütschg erinnern, der während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich unverschuldet zwischen die Fronten geriet, von den Deutschen Besatzern grundlos inhaftiert und später im KZ Buchenwald getötet wurde. Das Erinnern in der Ostschweiz hat also erst begonnen.