Warum eigentlich nicht wieder einmal Steppenwolf? Hermann Hesses Roman von 1927 handelt vom Versuch des Protagonisten Harry Haller, seine bürgerliche Identität auf- und aus ihr auszubrechen. Eine Renaissance und gar einen globalen Grosserfolg feierte das Werk in der 68er-Bewegung. Und es könnte auch jetzt, in Zeiten neuer Spiessigkeit, gut wieder herangezogen werden. Auch wenn Hesses Sprache aus heutiger Perspektive vielleicht etwas Patina angesetzt hat, wie eine deutsche Literaturjournalistin kürzlich in einem Podcast meinte.
Dominik Lämmler hat keine Mühe mit Hesses Sprache, im Gegenteil. «Ich mag seine Blumigkeit sehr», sagt der 45-jährige Künstler, der Saiten mit Kaffee und Zigarette in der Hand in seinem lauschigen Häuschen im Herisauer Dorfkern empfängt. Hier war früher die Heilsarmee untergebracht. Die gesamte untere Etage dient Lämmler und seinen mittlerweile zahlreichen Mitstreiter:innen als Atelier, Esssaal und, seit der Publikationsprozess des Projekts in Gang gesetzt wurde, auch als Lagerraum. Vor allem die 13 erst zum Teil montierten, telefonzellengrossen «Klabäuschen» (eine Verballhornung aus Klamauk und Kabäuschen) nehmen viel Raum ein. Das Gespräch findet oben in der höckligeren Familienküche statt.
Magisches Kneipentheater
Schon der Untertitel des Buchs – «13 Mal ein wenig Leben und Sterben mit Hallers Erben» – ist ein Reim. Reime stehen auch am Ursprung des Projekts. Irgendwann 2019, nach einer durchzechten Nacht in der legendären Herisauer Schmiedstube, lädt Sam Liechti seinen Freund Lämmler zu sich nach Hause. Gemeinsam schreiben sie das Gedicht Das magische Theater, in Anlehnung an das rauschhafte «magische Theater» im Steppenwolf, wo sich Protagonist Haller zum Ende des Buchs gleichzeitig verliert und findet. Lämmler und Liechti vergleichen das Kneipentreiben in der Schmiedstube mit dem Hesse’schen magischen Theater, mit allen individuellen und kollektiven Höhen- und Tiefflügen, die ein solch bunter nächtlicher Treffpunkt mit sich bringt. Gewidmet ist das Gedicht dem seinerseits legendären Wirt Daniel «Stübes» Staub, der 2022 verstarb.
Lämmler hat sich das Gedicht anschliessend zur Vorlage genommen. Ein Gemälde, Acryl auf Pavatex, 40 mal 80 Zentimeter, zeigt die Schmiedstube vor einer Skyline einer fiktiven Grossstadt. Ist es Gotham City oder Metropolis? Immerhin klettern Batman und Superman auf den dunklen Dächern im Hintergrund rum. Das wilde Treiben in der Schmiedstube ist nur schemenhaft angedeutet, im Eingang steht der Wirt, hinter ihm der Umriss eines Monsters mit leuchtenden Augen. Vor der Beiz an den Aussentischen wird gezecht, geraucht, gezäuerlet, musiziert, mit Wölfen geheult, geliebt, gehasst und in die Ecke geschifft. Im oberen Stock verstecken sich weitere Monster, einer speit aus dem Fenster und unten am Tisch hockt ein Gehörnter. Das volle, pralle Nachtleben eben.
Aus diesem Geist nähren sich auch die 12 weiteren Gedichte von Liechti und die dazugehörigen Gemälde von Lämmler, die nun in Buchform vorliegen. Darin geht es immer wieder um den janusgesichtigen Rauschzustand, aber auch viel Gesellschaftskritik schwingt mit, etwa an der westlichen Migrationspolitik, an der Ausbeutung der Natur, an der zeitgeistigen Oberflächlichkeit der digitalen Selbstinszenierung oder – eben – an der wieder aufkommenden Prüderie. Es geht um freie Liebe, Depression und Selbstmord, Freundschaft und ebenso Heimat- und Familienfragen. Kurzum: Alles, was die 68er-Bewegung schon gesagt haben, hier allerdings in einem Update fürs 21. Jahrhundert. Gespickt mit Augenzwinkern, Leidenschaft für das künstlerische Schaffen und viel nackter Haut.
Ein Buchprojekt mit Seitenarmen
Dominik Lämmler und Sam Liechti war bald klar, dass es nicht beim Buchprojekt bleiben soll. Vor allem während der Pandemiejahre reifte der Wunsch nach einer personellen und multimedialen Ausweitung des Projekts. So kamen immer mehr Freiwillige an Bord, halfen, die Texte für das Hörspiel einzusprechen, komponierten Songs zu den einzelnen Gedichten, halfen bei der Umsetzung von Videos und Events und so weiter. Auch Handwerksbetriebe beteiligten sich, ein Schreinerlehrling machte die Serienfertigung der «Klabäuschen» zu seinem Abschlussprojekt, andere spendeten Material.
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Lämmler und Liechti beim Videoschnitt.
Für Lämmler und Liechti wuchs sich das einstige Gedicht- und Gemäldeprojekt zur veritablen Kulturmanagementaufgabe aus. Inklusive Fundraising, dem allerdings abgesehen von der Zusage einer einzigen Stiftung wenig Erfolg beschieden war. Die Absagen waren teils widersprüchlich, dem Kanton war das Projekt zu «defizitär», während es einer Stiftung «zu gewinnorientiert» war.
Durchgezogen haben sies sowieso. Und wenn dann durch die Buchverkäufe noch ein kleines Honorar für die Beteiligten rausschaut, sind sie mehr als happy. «Wir sind alles keine Profikünstler», betont Dominik Lämmler. «Wir sind Schattenkünstler». Und diese treten jetzt mit einem schönen, ausufernden Kollektivwerk aus dem Schatten. Nach und nach werden auf der Website Clips zu den Gedichten/Bildern aufgeschaltet.
Diesen Samstag ist in der Chälblihalle in Herisau Buchpremiere mit diversen Beiträgen aus unterschiedlichsten Sparten: Musik, Spoken Word, Malerei, Kleinkunst und Theater. Am 1. März findet eine Konzertnacht statt, die sich vor allem den musikalischen Beiträgen zum Projekt widmet. Und am 5. April ist Vernissage der Kunstausstellung mit den 13 «Klabäuschen», in denen die die Gedichtgemälde nochmals mit anderen Sinnen zu erkunden sind.
Wer die Ausstellung nicht verpassen will, sollte sich beeilen, sie ist dort nur eine Woche lang zu sehen. Am 12. April ist aber nicht einfach Schluss. Wenn man Lämmler und Liechti glauben darf, haben Hallers Erben und all die vielen Beteiligten gerade erst angefangen.
«13 Mal ein wenig Leben und Sterben mit Hallers Erben»: Multimediales Kollektivkunstprojekt aus Herisau
Buchpremiere: 1. Februar, 20 Uhr, Chälblihalle Herisau
Konzertnacht: 1. März, «Dä 3. Stock» Herisau
Kunstausstellung: 5.–12. April, Altes Zeughaus Herisau
Infos zum «Hallers Erben» und weiteren Anlässen: hallerserben.com