Aus dem Schatten

Ihr ironischer Witz steckt auch im Detail: Dominik Lämmler und Samuel Liechti präsentieren stolz die «Deutsche Erstausgabe» ihres Gedichtbildbandes Hallers Erben. (Bilder: pd)

Was mit Gedichten und dazugehörigen Gemälden begann, wurde bald zum multimedialen Grossprojekt. Die Herisauer Dominik Lämmler und Sam Liechti, Schöpfer des Projekts «Hallers Erben», können dabei auf tatkräftige Unterstützung zählen.

War­um ei­gent­lich nicht wie­der ein­mal Step­pen­wolf? Her­mann Hes­ses Ro­man von 1927 han­delt vom Ver­such des Prot­ago­nis­ten Har­ry Hal­ler, sei­ne bür­ger­li­che Iden­ti­tät auf- und aus ihr aus­zu­bre­chen. Ei­ne Re­nais­sance und gar ei­nen glo­ba­len Gross­erfolg fei­er­te das Werk in der 68er-Be­we­gung. Und es könn­te auch jetzt, in Zei­ten neu­er Spies­sig­keit, gut wie­der her­an­ge­zo­gen wer­den. Auch wenn Hes­ses Spra­che aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve viel­leicht et­was Pa­ti­na an­ge­setzt hat, wie ei­ne deut­sche Li­te­ra­tur­jour­na­lis­tin kürz­lich in ei­nem Pod­cast mein­te.

Do­mi­nik Lämm­ler hat kei­ne Mü­he mit Hes­ses Spra­che, im Ge­gen­teil. «Ich mag sei­ne Blu­mig­keit sehr», sagt der 45-jäh­ri­ge Künst­ler, der Sai­ten mit Kaf­fee und Zi­ga­ret­te in der Hand in sei­nem lau­schi­gen Häus­chen im He­ri­sau­er Dorf­kern emp­fängt. Hier war frü­her die Heils­ar­mee un­ter­ge­bracht. Die ge­sam­te un­te­re Eta­ge dient Lämm­ler und sei­nen mitt­ler­wei­le zahl­rei­chen Mit­strei­ter:in­nen als Ate­lier, Ess­saal und, seit der Pu­bli­ka­ti­ons­pro­zess des Pro­jekts in Gang ge­setzt wur­de, auch als La­ger­raum. Vor al­lem die 13 erst zum Teil mon­tier­ten, te­le­fon­zel­len­gros­sen «Kla­bäu­schen» (ei­ne Ver­ball­hor­nung aus Kla­mauk und Ka­bäu­schen) neh­men viel Raum ein. Das Ge­spräch fin­det oben in der hö­ck­li­ge­ren Fa­mi­li­en­kü­che statt.

Ma­gi­sches Knei­pen­thea­ter

Schon der Un­ter­ti­tel des Buchs – «13 Mal ein we­nig Le­ben und Ster­ben mit Hal­lers Er­ben» – ist ein Reim. Rei­me ste­hen auch am Ur­sprung des Pro­jekts. Ir­gend­wann 2019, nach ei­ner durch­zech­ten Nacht in der le­gen­dä­ren He­ri­sau­er Schmied­stu­be, lädt Sam Liech­ti sei­nen Freund Lämm­ler zu sich nach Hau­se. Ge­mein­sam schrei­ben sie das Ge­dicht Das ma­gi­sche Thea­ter, in An­leh­nung an das rausch­haf­te «ma­gi­sche Thea­ter» im Step­pen­wolf, wo sich Prot­ago­nist Hal­ler zum En­de des Buchs gleich­zei­tig ver­liert und fin­det. Lämm­ler und Liech­ti ver­glei­chen das Knei­pen­trei­ben in der Schmied­stu­be mit dem Hes­se’schen ma­gi­schen Thea­ter, mit al­len in­di­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Hö­hen- und Tief­flü­gen, die ein solch bun­ter nächt­li­cher Treff­punkt mit sich bringt. Ge­wid­met ist das Ge­dicht dem sei­ner­seits le­gen­dä­ren Wirt Da­ni­el «Stü­bes» Staub, der 2022 ver­starb.

Lämm­ler hat sich das Ge­dicht an­schlies­send zur Vor­la­ge ge­nom­men. Ein Ge­mäl­de, Acryl auf Pava­tex, 40 mal 80 Zen­ti­me­ter, zeigt die Schmied­stu­be vor ei­ner Sky­line ei­ner fik­ti­ven Gross­stadt. Ist es Got­ham Ci­ty oder Me­tro­po­lis? Im­mer­hin klet­tern Bat­man und Su­per­man auf den dunk­len Dä­chern im Hin­ter­grund rum. Das wil­de Trei­ben in der Schmied­stu­be ist nur sche­men­haft an­ge­deu­tet, im Ein­gang steht der Wirt, hin­ter ihm der Um­riss ei­nes Mons­ters mit leuch­ten­den Au­gen. Vor der Beiz an den Aus­sen­ti­schen wird ge­zecht, ge­raucht, ge­zäu­er­let, mu­si­ziert, mit Wöl­fen ge­heult, ge­liebt, ge­hasst und in die Ecke ge­schifft. Im obe­ren Stock ver­ste­cken sich wei­te­re Mons­ter, ei­ner speit aus dem Fens­ter und un­ten am Tisch hockt ein Ge­hörn­ter. Das vol­le, pral­le Nacht­le­ben eben.

Aus die­sem Geist näh­ren sich auch die 12 wei­te­ren Ge­dich­te von Liech­ti und die da­zu­ge­hö­ri­gen Ge­mäl­de von Lämm­ler, die nun in Buch­form vor­lie­gen. Dar­in geht es im­mer wie­der um den ja­nus­ge­sich­ti­gen Rausch­zu­stand, aber auch viel Ge­sell­schafts­kri­tik schwingt mit, et­wa an der west­li­chen Mi­gra­ti­ons­po­li­tik, an der Aus­beu­tung der Na­tur, an der zeit­geis­ti­gen Ober­fläch­lich­keit der di­gi­ta­len Selbst­in­sze­nie­rung oder – eben – an der wie­der auf­kom­men­den Prü­de­rie. Es geht um freie Lie­be, De­pres­si­on und Selbst­mord, Freund­schaft und eben­so Hei­mat- und Fa­mi­li­en­fra­gen. Kurz­um: Al­les, was die 68er-Be­we­gung schon ge­sagt ha­ben, hier al­ler­dings in ei­nem Up­date fürs 21. Jahr­hun­dert. Ge­spickt mit Au­gen­zwin­kern, Lei­den­schaft für das künst­le­ri­sche Schaf­fen und viel nack­ter Haut.

Ein Buch­pro­jekt mit Sei­ten­ar­men

Do­mi­nik Lämm­ler und Sam Liech­ti war bald klar, dass es nicht beim Buch­pro­jekt blei­ben soll. Vor al­lem wäh­rend der Pan­de­mie­jah­re reif­te der Wunsch nach ei­ner per­so­nel­len und mul­ti­me­dia­len Aus­wei­tung des Pro­jekts. So ka­men im­mer mehr Frei­wil­li­ge an Bord, hal­fen, die Tex­te für das Hör­spiel ein­zu­spre­chen, kom­po­nier­ten Songs zu den ein­zel­nen Ge­dich­ten, hal­fen bei der Um­set­zung von Vi­de­os und Events und so wei­ter. Auch Hand­werks­be­trie­be be­tei­lig­ten sich, ein Schrei­ner­lehr­ling mach­te die Se­ri­en­fer­ti­gung der «Kla­bäu­schen» zu sei­nem Ab­schluss­pro­jekt, an­de­re spen­de­ten Ma­te­ri­al.

Lämmler und Liechti beim Videoschnitt.

Für Lämm­ler und Liech­ti wuchs sich das eins­ti­ge Ge­dicht- und Ge­mäl­de­pro­jekt zur ve­ri­ta­blen Kul­tur­ma­nage­ment­auf­ga­be aus. In­klu­si­ve Fund­rai­sing, dem al­ler­dings ab­ge­se­hen von der Zu­sa­ge ei­ner ein­zi­gen Stif­tung we­nig Er­folg be­schie­den war. Die Ab­sa­gen wa­ren teils wi­der­sprüch­lich, dem Kan­ton war das Pro­jekt zu «de­fi­zi­tär», wäh­rend es ei­ner Stif­tung «zu ge­winn­ori­en­tiert» war.

Durch­ge­zo­gen ha­ben si­es so­wie­so. Und wenn dann durch die Buch­ver­käu­fe noch ein klei­nes Ho­no­rar für die Be­tei­lig­ten raus­schaut, sind sie mehr als hap­py. «Wir sind al­les kei­ne Pro­fi­künst­ler», be­tont Do­mi­nik Lämm­ler. «Wir sind Schat­ten­künst­ler». Und die­se tre­ten jetzt mit ei­nem schö­nen, aus­ufern­den Kol­lek­tiv­werk aus dem Schat­ten. Nach und nach wer­den auf der Web­site Clips zu den Ge­dich­ten/Bil­dern auf­ge­schal­tet.

Die­sen Sams­tag ist in der Chälb­li­hal­le in He­ris­au Buch­pre­mie­re mit di­ver­sen Bei­trä­gen aus un­ter­schied­lichs­ten Spar­ten: Mu­sik, Spo­ken Word, Ma­le­rei, Klein­kunst und Thea­ter. Am 1. März fin­det ei­ne Kon­zert­nacht statt, die sich vor al­lem den mu­si­ka­li­schen Bei­trä­gen zum Pro­jekt wid­met. Und am 5. April ist Ver­nis­sa­ge der Kunst­aus­stel­lung mit den 13 «Kla­bäu­schen», in de­nen die die Ge­dicht­ge­mäl­de noch­mals mit an­de­ren Sin­nen zu er­kun­den sind.

Wer die Aus­stel­lung nicht ver­pas­sen will, soll­te sich be­ei­len, sie ist dort nur ei­ne Wo­che lang zu se­hen. Am 12. April ist aber nicht ein­fach Schluss. Wenn man Lämm­ler und Liech­ti glau­ben darf, ha­ben Hal­lers Er­ben und all die vie­len Be­tei­lig­ten ge­ra­de erst an­ge­fan­gen.

«13 Mal ein we­nig Le­ben und Ster­ben mit Hal­lers Er­ben»: Mul­ti­me­dia­les Kol­lek­tiv­kunst­pro­jekt aus He­ris­au

  • Buch­pre­mie­re: 1. Fe­bru­ar, 20 Uhr, Chälb­li­hal­le He­ris­au

  • Kon­zert­nacht: 1. März, «Dä 3. Stock» He­ris­au

  • Kunst­aus­stel­lung: 5.–12. April, Al­tes Zeug­haus He­ris­au

In­fos zum «Hal­lers Er­ben» und wei­te­ren An­läs­sen: hal­lerser­ben.com