Auf dem Buckel der Flüchtlinge

Der «Club» des Schweizer Fernsehens befasste sich am Dienstagabend mit dem Thema: «Flüchtlingswelle aus Afrika – Was tut die Schweiz?» Mit dabei zwei St.Galler Fachleute: Leyla Kanyare und Kaspar Surber.

Von  Rolf Bossart

In Zeiten, wo die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» den italienischen Fussballspieler Mario Balotelli ghanaischer Herkunft als «König aus dem Urwald» bezeichnet, der «Chaos» und «Wahn» in die sonst so geordnet zivilisierte italienische Mannschaft bringe, durfte man bei der ebenfalls urwüchsigen und naturalistischen Metapher der «Flüchtlingswelle» im Titel der Sendung das Schlimmste befürchten. Zumal die Zweideutigkeit in der Frage «Was tut die Schweiz?» – gegen die Welle oder für die Flüchtlinge? – durch die Abstimmungsmehrheiten in den letzten 20 Jahren zur schrecklichen Eindeutigkeit geronnen ist.

Politischer Realismus versus reaktionäre Fantasien

Dass Moderatorin Karin Frei zum Schluss in Bezug auf den Titel aber nur noch von einem «Flüchtlingsstrom» sprach und also die Tsunami-Katastrophen-Metapher in etwas Fliessendes von harmonischer Kontinuität verwandelte, liess doch den Schluss zu, dass der «Club» zumindest die rassistische Stereotype von der gefährlichen fremden Masse, der die einheimischen Individuen hilflos ausgesetzt wären, in etwas andere Bahnen gelenkt hatte. Nicht geringen Anteil daran hatte der ehemalige Saiten- und aktuelle WOZ-Redaktor Kaspar Surber, der seit Jahren unermüdlich sämtlichen reaktionären und idyllischen Fantasien von einer Eindämmung, Stoppung – oder was auch immer – der Migrationsbewegungen mit einem präzisen politischen Realismus begegnet. Ein Realismus, der davon ausgeht, dass das, was zu allen menschlichen Gesellschaften immer automatisch dazugehört hat und heute vermehrt zu einer Globalgesellschaft hinzugehört, immer geschehen wird: dass Menschen sich bewegen und an Grenzen oft nicht Halt machen wollen oder können. Eine Politik, die mit dem mehr oder weniger heimlichen Wunsch agiert, eine endgültige Regelung anzustreben, die Sache der nationalen Volkssouveräne sei, verhindert auf Kosten der Flüchtlinge und jener, die mit ihnen zusammenleben, sich anfreunden und solidarisieren, die längst überfällige aktive Gestaltung der Migrationsprozesse in unserem Land.

Leyla Kanyare, Übersetzerin, Aktivistin beim St.Galler Solidaritätsnetz, Saiten-Kolumnistin und vor 23 Jahren aus Somalia in die Schweiz geflüchtet, machte zudem klar, dass die Flüchtlinge von ihrem neuen Wohnort weder primär Geld noch staatliche Bemutterung erwarten, wie es immer wieder behauptet wird, sondern einfach nur Menschlichkeit und Sicherheit. Exakt diese aber sind strukturell geplante Mangelware in der Schweiz. Sie wären, abgesehen von den Dingen, die nicht die Schweiz allein entscheiden kann, mit einem veränderten politischen Willen leicht zu verbessern.

Sonderstatus made in Switzerland

Zum Beispiel schafft der schweizerische Sonderstatus der «vorläufigen Aufnahme» viel Unsicherheit bei den Flüchtlingen und Willkür in der Verwaltung, wie Susin Park, Leiterin des UNHCR für die Schweiz ausführte. Ein gutes Beispiel, wie sehr solche bauernschlaue Verwaltungstricks, made in Switzerland, den Schweizern ein gutes Gewissen machen, ohne den Betroffenen irgendwelche Rechte zuzusichern, war die Aussage des vierten Gesprächsteilnehmers, CVP-Nationalrat Gerhard Pfister. Auf den Vorwurf, die Leute mit vorläufiger Aufnahme hätten einen minderen Rechtsstatus und liefen Gefahr, nach Jahren in der Schweiz einfach ausgeschafft zu werden, entgegnete er, die könnten ja ein Härtefallgesuch stellen. Dass ein solches wieder Unsicherheit, langwierige Rechtsverfahren und neuerliche Bittstellerhaltung erfordert und nicht selten abgelehnt wird, wusste Leyla Kanyare aus eigener Erfahrung. Noch eine andere hohe Meinung von der Schweiz, die Gerhard Pfister äusserte, konnte leicht durch die Anwesenden zerpflückt werden. Die angeblich so grosse Attraktivität der reichen Schweiz, die nach der nationalistischen Mär ohne Gegenwehr in Kürze von Flüchtlingen überschwemmt würde, sei, so Susin Park, vor allem ein Mythos. Viel bestimmender für die Wahl eines Fluchtlandes seien die bereits dort befindlichen familiären oder freundschaftlichen Beziehungen.

Man sieht, Herr Pfister, Stellvertreter des Schweizer Mainstreams, hatte es schwer in dieser Runde. Und so hätte man auch Pfisters Behauptung, dass Länder mit grosser Flüchtlingsquote versuchen sollten, die westliche Version von Rechtsstaatlichkeit und kapitalistischer Marktwirtschaft zu übernehmen, da es keine besseren Systeme zur Krisen- und Armutsbekämpfung gebe, leicht mit antikolonialer Empörung und dem Verweis auf die Verbrechen des Kapitalismus, die zerbröckelnde Rechtsstaatlichkeit bei uns und das Recht auf kulturelle, ökonomische  und politische Autonomie der Völker und Nationen zurückweisen können. Dass das zurecht in dieser Einfachheit nicht gemacht wurde, verwies implizit auf die komplexen Paradoxien heutiger Migrationsprozesse, die der «Club» nicht mehr hatte lösen können: die Verbindung von Menschen- und Kapitalflucht, von kollektivem Wahn und Pseudodemokratisierung, von Zivilisationsbrüchen und Massenverarmung, vom Wunsch nach Bewegungsfreiheit und dem Zwang zur Wanderarbeit usw.

Deutlich aber wurde in dieser Gesprächsrunde die Haltung, die Ausgangspunkt für eine Bearbeitung all dieser Widersprüche sein müsste: Es darf nicht sein, die Probleme auf dem Buckel jener auszutragen, die – wo und warum auch immer – arm und gefährdet sind.

«Club» vom 17. Juni auf srf.ch