, 31. August 2020
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Architektur-Bachelor mit Fantasie und Wagemut

Die ersten Bachelor der St.Galler Architekturwerkstatt haben letzte Woche ihre Diplome entgegennehmen können. Die Abschlussarbeiten setzen sich an überraschenden Orten mit der bebauten Stadt oder dem Dorf auseinander.

Projekt an der Fürstenlandstrasse, nahe Moosweier. (Bild: Lukas Meier)

Ein Holzhochhaus am Rand von Appenzell, Wohnen über den Bahngleisen in Rorschach, wohnen auf dem Ego-Kiefer-Areal in Altstätten oder auf dem Papierfabrik-Areal in Bischofszell. Das Flawiler Stickereiquartier mit einer Genossenschaft zu neuem Leben erwecken. Und die Stadt reparieren: weit weg in Warschau oder ganz nah, in St.Gallen.

All dies sind Themen, die die ersten Bachelor der Architekturwerkstatt St.Gallen für ihre Abschlussarbeiten gewählt haben. Letzte Woche konnten die ersten 13 jungen Architektinnen und Architekten, die das Vollzeitstudium absolvierten, ihre Diplome entgegennehmen.

Wohnen in der Papierfabrik in Bischofszell. (Bild: Robert Rüttimann)

Der langwierige politische Kampf um die Wiedereinführung der Architekturausbildung an der Fachhochschule in St.Gallen – sie heisst neu «OST – Ostschweizer Fachhochschule» – hat sich gelohnt. Das Interesse am Lehrgang nimmt weiter zu. Zuletzt waren es in den drei Jahrgängen 99 Studierende.

Fürs kommende Semester haben sich 38 Frauen und Männer angemeldet – wieder mehr als erwartet. Und auch die Erwartung der Initianten, dass so wieder mehr junge Architektinnen und Architekten in der Ostschweiz bleiben und hier arbeiten erfüllt sich: Die Hälfte der Bachelor hat jetzt, nach dem Abschluss, eine Stelle in der Region.

Der Lockdown: ein markanter Einschnitt

Das Interesse am St.Galler Architekturstudium liegt nicht zuletzt am Werkstattcharakter und am ambitionierten Programm. Für die Architektin Anna Jessen, die die Werkstatt in der St.Galler Hauptpost leitet, bedeutet dies: «Viel Handarbeit, vieles analog erarbeiten und den Computer als eigentliches Werkzeug einsetzen.»

Weil ein solcher Unterricht vom direkten Diskurs lebt, war der Lockdown ein markanter Einschnitt, sagt wie. Er schränkte insbesondere die nun diplomierten Absolventinnen und Absolventen in der Endphase ihres Studiums stark ein.

Die Architekturwerkstatt hat zwar umgehend reagiert und die Vorlesungen digitalisiert, der Werkstattcharakter dürfe aber nicht verloren gehen, so Jessen. Wichtig ist ihr der Teamgeist zwischen Lehrkörper und Studierenden und unter den Studierenden. Den könne man dank der relativ kleinen Schule leben, wenn es in der gemeinsamen analogen Arbeit zu zufälligen Begegnungen im Alltag kommt und nicht alles digital durchgeplant ist.

Der erste Jahrgang der Studierenden hatte gleich zu Beginn den Schulstandort, die Stadt St.Gallen, erkundet. Sie analysierten dabei die Stadt als sozialen öffentlichen Raum und erarbeiteten unter anderem akribisch die Unterschiede der einzelnen Quartiere.

Das Resultat fassten sie als «Balthasar» zusammen, angelehnt an das Kinderlied über den «Tausendfüssler Balthasar» von Dieter Wiesmann. Der lange Körper kriecht durch den Talboden, seine vielen Füsse sind Symbol für die Querachsen der Stadt.

Die Werkstatt: das Ideenlabor

Eine Gruppe der Studierenden wählte danach fünf bisher in der Stadt kaum beachtete und eher schwierige Standorte für ihre Arbeiten aus, um dort die Quartiere zu stärken. Dies ist ganz im Sinne von Studienleiterin Anna Jessen, die zu Fantasie und Wagemut auffordert. Im Studium müssten ja keine realisierbaren und auf alle Seiten abgeschliffene Projekte entstehen, erklärt sie. «In der Werkstatt dürfen Ideen präsentiert werden, die man später im Berufsleben kaum so realisieren kann.»

Die sechs Arbeiten zur Stadt St.Gallen suchten nach verborgenen Potenzialen der entsprechenden Standorte. «Die teils schwierige Umgebung waren für uns spannender als zum Beispiel die Ruckhalde oder das frei werdende Areal des Kinderspitals», kommentiert Lukas Meier, einer der Studenten aus der Gruppe der St.Galler Projekte.

Statt das Bahnareal in St.Fiden nimmt sich eine Arbeit deshalb das mit Baracken verstellte Areal in der Kurve am unteren Ende der Splügenstrasse gegenüber dem Olma-Areal an – dem «Untere Aepli». Hier könnte eine Wohnsiedlung so gebaut werden, dass der Strassen- und Bahnlärm draussen bleibt und im Innern ein ruhiger, begrünter Hof entstehen würde.

Ein zweiter Bauplatz könnte die durch einen Abbruch entstandene Lücke an der unteren Moosbruggstrasse sein, gegenüber dem Karlstor. Der Vorschlag spielt dort mit der Brutalismusarchitektur des benachbarten Verwaltungsgebäudes.

Entwurf für die Moosbruggstrasse (Abbildung: Anel Malcinovic)

Ein weiterer Vorschlag für die provisorische Nutzung des Güterbahnhofareals ist ein modular aufgebautes Studentenwohnheim.

Ein überraschender Standort könnte an der Bogenstrasse sein, wo vor den Shedhallen von Bischoff-Textil statt der Tankstelle und dem kleinen Haus ein langgestreckter Baukörper gesetzt werden könnte – mit den Shedhallen verbunden und vielfältig genutzt.

Entwurf für einen Neubau an der Bogenstrasse. (Bilder: Alexandros Sarantaenas)

In Bruggen beplanten zwei Absolventen zwei Parzellen an der Fürstenlandstrasse nahe dem Moosweiher. Zwei in architektonischer Sprache unterschiedliche Projekte schlagen Wohnüberbauungen vor, eine sieht neben einem Turm schmale Reihenhäuser und eine Markthalle im Parterre vor.

Sechs weitere Arbeiten befassen sich mit Planungen oder Umnutzungen an den eingangs erwähnten Orten ausserhalb der Stadt St.Gallen. Immer handelt es um Ideen in einem bereits bebauten Umfeld.

Dass mit der Ausnahme von Warschau alle Standorte in der Ostschweiz liegen, habe vielen Studierenden gezeigt, dass es in St.Gallen und in der näheren Umgebung interessante Architekturaufgaben gibt, blickt Absolvent Lukas Meier auf seine drei Studienjahre zurück. Auch er, der Stadtzürcher, bleibt nun bis auf weiteres in St.Gallen, denn er hat hier in einem Architekturbüro eine Stelle gefunden.

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