Anti-Intellektuell, linksradikal und heroinsüchtig

Die Diskussionsrunde zu den Roten Steinen (von links): Die beiden «WOZ»-Autoren Philipp Anz und Daniel Stern, «Comedia»-Mitgründer Pius Frey und Moderatorin Judith Grosse. (Bild: zvg)

Am Dienstag haben die beiden «WOZ»-Autoren Philipp Anz und Daniel Stern im Palace ihre Recherche zu den Roten Steinen vorgestellt. Als ehemaliges Mitglied war auch der St.Galler Pius Frey an der Veranstaltung dabei.

«Durch den Kon­sum gros­ser Men­gen He­ro­in wa­ren vie­le Leu­te da­mals mit­tei­lungs­be­dürf­tig, ob­wohl sie am Tag da­nach oft wie­der ver­ges­sen hat­ten, über was sie am Abend zu­vor ge­spro­chen hat­ten.» Die­se Aus­sa­ge des ehe­ma­li­gen Ro­te-Stei­ne-Mit­glieds Pi­us Frey am Diens­tag­abend im Pa­lace bringt die Wi­der­sprüch­lich­keit der links­ra­di­ka­len Grup­pe, die in den 70er-Jah­ren in Kom­mu­nen in Zü­rich, Ba­sel und St.Gal­len leb­te, auf den Punkt. Ei­ner­seits woll­ten die Ro­ten Stei­ne ei­ne bes­se­re, an­ti-ka­pi­ta­lis­ti­sche Ge­sell­schaft, an­de­rer­seits zer­stör­ten sich die Mit­glie­der durch ih­ren ex­zes­si­ven Kon­sum von Dro­gen und Al­ko­hol oft selbst. Aus­ser­dem ging es we­ni­ger um ei­nen theo­re­tisch-in­tel­lek­tu­el­len Dis­kurs, son­dern viel­mehr um Ak­tio­nen und ums Zu­dröh­nen. 

Wäh­rend an­de­re – vor­wie­gend stu­den­ti­sche – au­to­no­me Grup­pen je­ner Zeit den Klas­sen­kampf mit in­tel­lek­tu­el­len Re­den und Pam­phle­ten or­ga­ni­sier­ten, prü­gel­ten sich die Ro­ten Stei­ne auf den Stras­sen mit der Po­li­zei, kon­su­mier­ten Dro­gen, mach­ten die Stras­sen mit Mo­tor­rä­dern un­si­cher oder ga­ben ih­re Frau­en der Pro­sti­tu­ti­on preis. Die Ro­ten Stei­ne wa­ren die Pro­le­ten, Säu­fer und Schlä­ger, tra­di­tio­nel­le Lin­ke wa­ren für sie eher Spies­ser als Re­vo­lu­tio­nä­re.

Ei­ne Grup­pe mit Wi­der­sprü­chen 

Es sei «ein Stück ver­ges­se­ner oder ver­dräng­ter lin­ker Ge­schich­te», schrei­ben die bei­den «WOZ»-Au­toren Phil­ipp Anz und Da­ni­el Stern im Edi­to­ri­al ih­rer Re­por­ta­ge in der kürz­lich er­schie­ne­nen Bei­la­ge «Wo­bei». An­ge­fan­gen hat al­les, wie man dort nach­le­sen kann, im Ja­nu­ar 1971. Ei­ne Grup­pe Ju­gend­li­cher, be­stehend aus Lehr­lin­gen, Schü­ler:in­nen, Hip­pies und Ro­ckern, hat­te ei­nen Bun­ker un­ter­halb des Lin­den­hofs, mit­ten in der Stadt Zü­rich, be­setzt. «Die Grup­pe im Bun­ker hat sich be­wusst ab­ge­grenzt von der üb­li­chen mao­is­tisch ge­präg­ten Lin­ken der da­ma­li­gen Zeit», er­klärt Phil­ipp Anz im Pa­lace. «Der Fo­kus lag haupt­säch­lich auf den Men­schen von der Gas­se. Out­si­der wie Ob­dach­lo­se, Ar­beits­lo­se, Rand­stän­di­ge, aber auch Lehr­lin­ge.» Bei­spiels­wei­se wur­den ein Ein­heits­lohn von 800 Fran­ken für Lehr­lin­ge oder mehr Rech­te für Schwu­le und Je­ni­sche ge­for­dert.

Die Wi­der­sprüch­lich­keit und das Pro­le­ten­haf­te der Ro­ten Stei­ne wird an vie­len Stel­len sicht­bar: Un­ty­pisch für ei­ne links­ra­di­ka­le Grup­pe war bei­spiels­wei­se auch ih­re Nä­he zu Ro­cker- und Mo­tor­rad­gangs. «Wir sind mit Mo­tor­rä­dern her­um­ge­fah­ren, die Leu­te auf der Stras­se wa­ren teil­wei­se scho­ckiert», er­in­nert sich der St.Gal­ler und spä­te­re Co­me­dia-Grün­der Pi­us Frey in sei­ner Oral Histo­ry.

Män­ner­do­mi­nier­te Sze­ne und se­xu­el­le Ge­walt

Ana­log ei­ner Ro­cker­gang wa­ren auch die Ro­ten Stei­ne män­ner­do­mi­niert. Selbst bei der Grün­dung im Bun­ker war le­dig­lich ei­ne ein­zi­ge Frau da­bei. Den­noch ha­ben sich im Lauf der Zeit ver­mehrt Frau­en, die sich ziem­lich früh un­ter dem Na­men Ro­te Zo­ra selbst or­ga­ni­sier­ten, der Be­we­gung an­ge­schlos­sen. «Wir Frau­en wer­den nicht nur von den Ka­pi­ta­lis­ten un­ter­drückt und aus­ge­beu­tet, son­dern di­rekt von al­len Män­nern, was auch wie­der dem Ka­pi­ta­lis­mus dient», stand ge­mäss den Au­toren Anz und Stern auf ei­nem Flug­blatt der Ro­ten Zo­ra, das die bei­den wäh­rend ih­rer Re­cher­che ge­fun­den ha­ben. Wäh­rend die männ­li­chen Ro­ten Stei­ne im St.Gal­ler Riet­hüs­li in ei­ner «Bruch­bu­de» leb­ten, trenn­ten sich die Frau­en der Ro­ten Zo­ra räum­lich von ih­nen und zo­gen in ei­ne ei­ge­ne Kom­mu­ne an der Schwert­gas­se. 

Vie­le der Frau­en in­ner­halb der schweiz­wei­ten Be­we­gung pro­sti­tu­ier­ten sich; oft weil sie da­mit ih­re He­ro­in­sucht fi­nan­zier­ten, oft aber auch, weil sie von ih­ren «Gai­en», wie die Män­ner der Grup­pe ge­nannt wur­den, da­zu auf­ge­for­dert wur­den. Die meis­ten Frau­en sind auf­grund ih­rer Dro­gen­sucht mitt­ler­wei­le ge­stor­ben, teil­wei­se auch durch Sui­zid. 

Ei­ne zen­tra­le Rol­le beim se­xis­ti­schen Um­gang mit Frau­en und dem Zwang zur Pro­sti­tu­ti­on in­ner­halb der Grup­pe spiel­te Guy Bar­ri­er, «An­trei­ber, Ideen­ge­ber und Frau­en­held» der Ro­ten Stei­ne. «Guy hat Mäd­chen pro­sti­tu­iert und he­ro­in­süch­tig ge­macht», er­klärt Da­ni­el Stern wäh­rend des Po­di­ums. Und Pi­us Frey fügt an: «Ob­wohl auch die Frau­en mehr­heit­lich kon­ven­tio­nel­le Zwei­er­be­zie­hun­gen ab­lehn­ten, wi­der­streb­ten ih­nen Ma­cker­ty­pen wie Guy Bar­ri­er, sie fühl­ten sich von ihm teil­wei­se an­ge­wi­dert.» Ge­mäss der Re­cher­che ha­ben sich den­noch vie­le jun­ge Frau­en in Bar­ri­er ver­liebt, wäh­rend er sie nach kur­zer Zeit ver­ach­te­te oder ge­fühl­los igno­rier­te. Bar­ri­er, der selbst aus ei­ner «gross­ka­pi­ta­lis­ti­schen» Zür­cher Fa­mi­lie stamm­te und 1992 an ei­ner HIV-In­fek­ti­on starb, hat­te of­fen­bar ei­nen Hang zu jun­gen Mäd­chen. Im­mer­hin wur­de er be­reits 1971 we­gen «Un­zucht» mit ei­ner Min­der­jäh­ri­gen zu ei­ner be­ding­ten Ge­fäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt.

Über­wa­chung durch den Staat

In den spä­ten 70er-Jah­ren hat sich die Grup­pe mehr und mehr aus­ein­an­der­ge­lebt, un­ter an­de­rem auch, weil ei­ni­ge Mit­glie­der der Ro­ten Stei­ne mit der töd­li­chen Ge­walt der Ro­ten Ar­mee Frak­ti­on (RAF) sym­pa­thi­sier­ten. In Flug­blät­tern wur­de zu­neh­mend zum «ge­walt­sa­men Wi­der­stand» und zur «Be­reit­schaft zur An­wen­dung re­vo­lu­tio­nä­rer Ge­walt» auf­ge­ru­fen. Die Ro­ten Stei­ne stan­den zu die­sem Zeit­punkt längst un­ter Be­ob­ach­tung von Staat und Po­li­zei. «Die enor­me Über­wa­chung der Po­li­zei hat mich bei den Re­cher­chen je­doch über­rascht», gibt Au­tor Phil­ipp Anz zu. Nicht nur be­nutz­te die NZZ in ih­rer Be­richt­erstat­tung oft den Be­griff Ter­ror, auch in den Ak­ten, die er und Da­ni­el Stern in den Staats­ar­chi­ven ge­fun­den ha­ben, sei bei­spiels­wei­se die Re­de vom «ar­beits­lo­sen Ge­sin­del» ge­we­sen. Die hem­mungs­lo­se Über­wa­chung der Bür­ger:in­nen fand ih­ren Hö­he­punkt be­kannt­lich in den frü­hen 90er-Jah­ren im so­ge­nann­ten Fi­chen­skan­dal.

Die 31-sei­ti­ge WOZ-Bei­la­ge über die mitt­ler­wei­le ver­ges­se­ne Ge­schich­te und Exis­tenz der Ro­ten Stei­ne ist ei­ne auf­schluss­rei­che und süf­fi­sant les­ba­re Re­cher­che über die Um­brü­che der 70er-Jah­re und de­ren Out­si­der, die ih­re Hoff­nun­gen auf ei­ne bes­se­re Welt we­ni­ger mit Dia­log und Po­li­tik als viel­mehr mit unz­im­per­li­chen, bra­chia­len Me­tho­den zu er­rei­chen ver­such­ten. Gleich­zei­tig wa­ren die Ro­ten Stei­ne Weg­be­rei­ter:in­nen vie­ler au­to­no­mer Grup­pen in den dar­auf­fol­gen­den 80ern.

Auf­fal­lend am Diens­tag­abend im Pa­lace war, dass es im Pu­bli­kum fast kei­ne jün­ge­ren Men­schen hat­te. Die meis­ten Be­su­cher:in­nen ha­ben die 70er wohl selbst als Teen­ager er­lebt und sind wahr­schein­lich aus Nost­al­gie­grün­den an­ge­reist; auch, weil der Abend mit «Re­bel Songs» aus den 70er- und 80er-Jah­ren un­ter­malt wur­de. Ge­ra­de in Be­zug auf die pla­ne­ta­ri­schen Her­aus­for­de­run­gen un­se­rer Zeit wä­re es aber auch für ein jün­ge­res Pu­bli­kum durch­aus in­ter­es­sant ge­we­sen, mehr über die­se ver­gan­ge­ne Pro­test­be­we­gung samt all ih­ren Wi­der­sprü­chen zu er­fah­ren.