«Durch den Konsum grosser Mengen Heroin waren viele Leute damals mitteilungsbedürftig, obwohl sie am Tag danach oft wieder vergessen hatten, über was sie am Abend zuvor gesprochen hatten.» Diese Aussage des ehemaligen Rote-Steine-Mitglieds Pius Frey am Dienstagabend im Palace bringt die Widersprüchlichkeit der linksradikalen Gruppe, die in den 70er-Jahren in Kommunen in Zürich, Basel und St.Gallen lebte, auf den Punkt. Einerseits wollten die Roten Steine eine bessere, anti-kapitalistische Gesellschaft, andererseits zerstörten sich die Mitglieder durch ihren exzessiven Konsum von Drogen und Alkohol oft selbst. Ausserdem ging es weniger um einen theoretisch-intellektuellen Diskurs, sondern vielmehr um Aktionen und ums Zudröhnen.
Während andere – vorwiegend studentische – autonome Gruppen jener Zeit den Klassenkampf mit intellektuellen Reden und Pamphleten organisierten, prügelten sich die Roten Steine auf den Strassen mit der Polizei, konsumierten Drogen, machten die Strassen mit Motorrädern unsicher oder gaben ihre Frauen der Prostitution preis. Die Roten Steine waren die Proleten, Säufer und Schläger, traditionelle Linke waren für sie eher Spiesser als Revolutionäre.
Eine Gruppe mit Widersprüchen
Es sei «ein Stück vergessener oder verdrängter linker Geschichte», schreiben die beiden «WOZ»-Autoren Philipp Anz und Daniel Stern im Editorial ihrer Reportage in der kürzlich erschienenen Beilage «Wobei». Angefangen hat alles, wie man dort nachlesen kann, im Januar 1971. Eine Gruppe Jugendlicher, bestehend aus Lehrlingen, Schüler:innen, Hippies und Rockern, hatte einen Bunker unterhalb des Lindenhofs, mitten in der Stadt Zürich, besetzt. «Die Gruppe im Bunker hat sich bewusst abgegrenzt von der üblichen maoistisch geprägten Linken der damaligen Zeit», erklärt Philipp Anz im Palace. «Der Fokus lag hauptsächlich auf den Menschen von der Gasse. Outsider wie Obdachlose, Arbeitslose, Randständige, aber auch Lehrlinge.» Beispielsweise wurden ein Einheitslohn von 800 Franken für Lehrlinge oder mehr Rechte für Schwule und Jenische gefordert.
Die Widersprüchlichkeit und das Proletenhafte der Roten Steine wird an vielen Stellen sichtbar: Untypisch für eine linksradikale Gruppe war beispielsweise auch ihre Nähe zu Rocker- und Motorradgangs. «Wir sind mit Motorrädern herumgefahren, die Leute auf der Strasse waren teilweise schockiert», erinnert sich der St.Galler und spätere Comedia-Gründer Pius Frey in seiner Oral History.
Männerdominierte Szene und sexuelle Gewalt
Analog einer Rockergang waren auch die Roten Steine männerdominiert. Selbst bei der Gründung im Bunker war lediglich eine einzige Frau dabei. Dennoch haben sich im Lauf der Zeit vermehrt Frauen, die sich ziemlich früh unter dem Namen Rote Zora selbst organisierten, der Bewegung angeschlossen. «Wir Frauen werden nicht nur von den Kapitalisten unterdrückt und ausgebeutet, sondern direkt von allen Männern, was auch wieder dem Kapitalismus dient», stand gemäss den Autoren Anz und Stern auf einem Flugblatt der Roten Zora, das die beiden während ihrer Recherche gefunden haben. Während die männlichen Roten Steine im St.Galler Riethüsli in einer «Bruchbude» lebten, trennten sich die Frauen der Roten Zora räumlich von ihnen und zogen in eine eigene Kommune an der Schwertgasse.
Viele der Frauen innerhalb der schweizweiten Bewegung prostituierten sich; oft weil sie damit ihre Heroinsucht finanzierten, oft aber auch, weil sie von ihren «Gaien», wie die Männer der Gruppe genannt wurden, dazu aufgefordert wurden. Die meisten Frauen sind aufgrund ihrer Drogensucht mittlerweile gestorben, teilweise auch durch Suizid.
Eine zentrale Rolle beim sexistischen Umgang mit Frauen und dem Zwang zur Prostitution innerhalb der Gruppe spielte Guy Barrier, «Antreiber, Ideengeber und Frauenheld» der Roten Steine. «Guy hat Mädchen prostituiert und heroinsüchtig gemacht», erklärt Daniel Stern während des Podiums. Und Pius Frey fügt an: «Obwohl auch die Frauen mehrheitlich konventionelle Zweierbeziehungen ablehnten, widerstrebten ihnen Mackertypen wie Guy Barrier, sie fühlten sich von ihm teilweise angewidert.» Gemäss der Recherche haben sich dennoch viele junge Frauen in Barrier verliebt, während er sie nach kurzer Zeit verachtete oder gefühllos ignorierte. Barrier, der selbst aus einer «grosskapitalistischen» Zürcher Familie stammte und 1992 an einer HIV-Infektion starb, hatte offenbar einen Hang zu jungen Mädchen. Immerhin wurde er bereits 1971 wegen «Unzucht» mit einer Minderjährigen zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt.
Überwachung durch den Staat
In den späten 70er-Jahren hat sich die Gruppe mehr und mehr auseinandergelebt, unter anderem auch, weil einige Mitglieder der Roten Steine mit der tödlichen Gewalt der Roten Armee Fraktion (RAF) sympathisierten. In Flugblättern wurde zunehmend zum «gewaltsamen Widerstand» und zur «Bereitschaft zur Anwendung revolutionärer Gewalt» aufgerufen. Die Roten Steine standen zu diesem Zeitpunkt längst unter Beobachtung von Staat und Polizei. «Die enorme Überwachung der Polizei hat mich bei den Recherchen jedoch überrascht», gibt Autor Philipp Anz zu. Nicht nur benutzte die NZZ in ihrer Berichterstattung oft den Begriff Terror, auch in den Akten, die er und Daniel Stern in den Staatsarchiven gefunden haben, sei beispielsweise die Rede vom «arbeitslosen Gesindel» gewesen. Die hemmungslose Überwachung der Bürger:innen fand ihren Höhepunkt bekanntlich in den frühen 90er-Jahren im sogenannten Fichenskandal.
Die 31-seitige WOZ-Beilage über die mittlerweile vergessene Geschichte und Existenz der Roten Steine ist eine aufschlussreiche und süffisant lesbare Recherche über die Umbrüche der 70er-Jahre und deren Outsider, die ihre Hoffnungen auf eine bessere Welt weniger mit Dialog und Politik als vielmehr mit unzimperlichen, brachialen Methoden zu erreichen versuchten. Gleichzeitig waren die Roten Steine Wegbereiter:innen vieler autonomer Gruppen in den darauffolgenden 80ern.
Auffallend am Dienstagabend im Palace war, dass es im Publikum fast keine jüngeren Menschen hatte. Die meisten Besucher:innen haben die 70er wohl selbst als Teenager erlebt und sind wahrscheinlich aus Nostalgiegründen angereist; auch, weil der Abend mit «Rebel Songs» aus den 70er- und 80er-Jahren untermalt wurde. Gerade in Bezug auf die planetarischen Herausforderungen unserer Zeit wäre es aber auch für ein jüngeres Publikum durchaus interessant gewesen, mehr über diese vergangene Protestbewegung samt all ihren Widersprüchen zu erfahren.